Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Obermain
Icon Pfeil nach unten
Lichtenfels
Icon Pfeil nach unten

Wenn plötzlich das Gehirn aussetzt

Lichtenfels

Wenn plötzlich das Gehirn aussetzt

    • |
    • |
    Trickbetrüger haben vergangenen Freitag versucht, ein älteres Ehepaar aus dem Landkreis Lichtenfels um wertvollen Schmuck zu erleichtern – glücklicherweise ohne Erfolg.Symbolfoto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa
    Trickbetrüger haben vergangenen Freitag versucht, ein älteres Ehepaar aus dem Landkreis Lichtenfels um wertvollen Schmuck zu erleichtern – glücklicherweise ohne Erfolg.Symbolfoto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa Foto: Karl-Josef Hildenbrand (dpa)

    Es ist Freitag, als sich das Leben von Bernhard und Katharina Müller* schlagartig ändern wird. Das Rentnerehepaar lebt in einem großzügigen Haus im Landkreis Lichtenfels, genießt seinen Ruhestand und hat Freude an den beiden erwachsenen Söhnen. An diesem Freitag klingelt gegen 12 Uhr das Telefon, Bernhard sieht am Display „Extern“. Er nimmt den Anruf entgegen – „Das mache ich sonst nur, wenn ich eine Nummer sehe“ –, und es beginnt ein Drama, das weder er noch seine Frau je vergessen werden.

    „Hier ist die Staatsanwaltschaft Bad Neustadt, mein Name ist Dr. Bach, ich bin Staatsanwalt“, meldet sich ein Mann mit leicht osteuropäischem Akzent. „Ihr Sohn hat einen Verkehrsunfall verursacht, er hat ein Kind auf einem Zebrastreifen totgefahren. Die Mutter liegt mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus. Ihr Sohn befindet sich deswegen in psychologischer Behandlung.“ Sekunden später hört Bernhard Müller eine Bandaufnahme. „Papa, hol mich hier raus“, sagt ein weinender Mann.

    Der Sohn soll für Tod eines Menschen verantwortlich sein

    Müller zögert, alles Mögliche saust durch seinen Kopf. Er ist komplett erschrocken, sein Sohn wohnt in Bad Neustadt, eine logische Verbindung ist vorhanden. „Peter*, was ist passiert?“, fragt er bang. Wieder ist „Dr. Bach“ in der Leitung: „Ihr Sohn sitzt in Untersuchungshaft. Da er für den Tod eines Menschen verantwortlich ist und ein zweiter im Sterben liegt, wird er in die Justizvollzugsanstalt überstellt.“

    „Ich stand in dem Moment unter Stress, unter Schock. Mein Gehirn war ausgeschaltet. Ich weiß, dass man in so einem Fall nicht in die JVA kommt, normalerweise wird man freigelassen“, sagt Bernhard Müller. Der Senior wirkt wie ein reflektierter, sehr intelligenter Mann. Man sieht, wie er mit sich selbst hadert. Doch an diesem Freitagmittag wird er unter extremen psychischen Druck gesetzt.

    „Dr. Bach“ macht weiter, lässt den älteren Herrn nicht zur Ruhe kommen: „Da es vermutliche zwei Tote gibt, müssen wir die Kaution auf 75 000 Euro ansetzen, damit er auf freien Fuß gesetzt werden kann. Das Geld hinterlegen Sie beim Amtsgericht in Lichtenfels. Sie erhalten es bei der Hauptverhandlung gegen Ihren Sohn zurück.“

    „Das Geld habe ich nicht. Ich bin Rentner. Alles, was ich habe, liegt auf meinem Bankkonto“, antwortet Müller. „Haben Sie Gold? Haben Sie Krügerrand-Münzen?“, will der „Staatsanwalt“ wissen. „Nein!“, sagt der Rentner.

    „Dr. Bach“ glaubt ihm nicht. Er wird immer energischer, fordernder, fragt nach Schmuck. Bernhard Müller wird immer verzweifelter. Nun kommt seine Frau Katharina ins Spiel. Ihr hatte Müller während des Gesprächs eine Notiz geschrieben: „Peter soll ein Kind totgefahren haben.“

    Beide werden an Handy und Festnetztelefon beschäftigt

    Der „Staatsanwalt“ will sie sprechen, wegen des Schmucks. Aber nicht über das Festnetztelefon. Sie wird auf Bernhard Müllers Handy angerufen. Derweil muss der Ehemann am Festnetz-Apparat bleiben. Beide werden von der „Staatsanwaltschaft“ beschäftigt, unter Druck gesetzt. Sie sollen nicht verschnaufen, nicht reflektieren, und auf keinen Fall den Sohn anrufen – oder gar die Polizei. „Ich wurde nun von einer Frau Krause mit Fragen bombardiert. Sie wollte wissen, wann ich geboren bin, wo ich mein Geld habe. Sie wollte alles wissen.“

    „Dr. Bach“ widmet sich unterdessen Katharina Müller: „Ihr Sohn hat mit dem Handy am Ohr ein Kind totgefahren!“ Katharina Müller traut der Sache von Anfang an nicht. „Wo ist das passiert?“, will sie mit strengem Ton wissen. „Auf der B5!“, erwidert der „Staatsanwalt“, erzählt ihr die gleiche Geschichte wie ihrem Mann und fragt Katharina Müller detailliert nach deren Schmuck.

    Der ist viel weniger wert, gewiss keine 75 000 Euro, sagt Katharina Müller. „Okay, ich habe mit dem zuständigen Richter gesprochen. Wir können die Kaution senken“, sagt „Dr. Bach“ und beruhigt: „Das ganze Gespräch wird protokolliert und an das Amtsgericht weitergegeben.“

    Plötzlich fällt ihm etwas Entscheidendes ein: Es ist Freitagmittag, das Amtsgericht Lichtenfels hat geschlossen. „Sie müssen jetzt nach Würzburg kommen!“, fordert er. Auf der Stelle. Aber mit dem Schmuck, der soll als Kaution mitgebracht werden – verpackt in einem Kulturbeutel! Eine Banküberweisung geht übrigens nicht, wegen des Wochenendes wäre das Geld erst am Montag auf dem Konto der „Staatskasse“.

    Der Anrufer hatte auf alles eine Antwort

    „Natürlich habe ich Verdacht geschöpft“, sagt Katharina Müller. Wie ihr Mann wirkt auch sie alles andere als naiv. Sie hadert mit sich. Der Anrufer habe zwar einfühlsam gesprochen, doch auch nach Sachen gefragt, die ihn nichts angehen. Neben dem Akzent habe sie stutzig gemacht, dass zwar das Lichtenfelser Amtsgericht geschlossen habe, das in Würzburg jedoch nicht. „Doch Dr. Bach hatte auf alles eine Antwort.“ Letztlich habe die Angst um ihren Sohn – „Ist er vielleicht entführt worden?“ – sie und ihren Mann dazu gebracht, in die unterfränkische Großstadt zu fahren.

    Kurz darauf sitzen beide im Auto. Die Gelegenheit, sich auszutauschen, haben sie nicht. „Wir durften das Handy nicht auflegen!“, erinnert sich Katharina Müller. Und ihr Mann ergänzt: „Natürlich hätte ich meinen Sohn anrufen sollen, doch es war einfach nicht möglich. Wir wurden ständig unter Stress gesetzt, standen selbst unter Strom. Habe ich den Ausweis dabei? Schaffen wir es rechtzeitig nach Würzburg? All das ging mir im Kopf herum.“

    Als im Tunnel „Schwarzer Berg“ der Empfang kurz ausfällt, folgt sofort die strenge Rüge von „Dr. Bach“ oder „Frau Krause“. Nach eineinhalb Stunden Fahrt kommt das Ehepaar in Würzburg und wird zum Justizzentrum in der Ottostraße geleitet. Hier soll der wertvolle Schmuck abgegeben werden. „Wir parkten vor dem Gebäudekomplex. 20 Minuten, und es tat sich nichts“, sagt Katharina Müller.

    Plötzlich ist eine Frau in der Leitung, erzählt, dass etwas dazwischen gekommen sei, dass es Probleme mit der 3G-Regelung gebe. „Was soll das? Wir sind doch geboostert?“, erwidert die Seniorin und wird von der Anruferin unwirsch angefahren: „In Bad Neustadt gelten andere Reglungen als hier!“

    „Es wurde immer dubioser, aber wir haben aus Sorge um unseren Sohn weiter gemacht. Wir hatten ja auch bisher keine Gelegenheit ihn anzurufen“, sagt Katharina Müller.

    Die Frau befiehlt den Müllers, zu einer anderen Adresse zu fahren und dort zu warten. Trotz Navi im Auto sorgen Baustellen und Umleitungen für eine gefühlte Ewigkeit, bis das Ehepaar vor einer Gaststätte parkt. „Um Gottes Willen“, sagt Katharina Müller zu ihrem Mann, „was ist das für eine Gegend“. Bernhard Müller schaut sich die schummrige, nach Pommes Frites stinkende Kneipe von außen an. „Da können wir nicht bleiben, das ist kriminell.“

    „Guten Tag, meine Name ist Staatsanwältin Dr. Linnemann. Sie müssen in der Gaststätte den Schmuck abgeben“, befiehlt plötzlich eine neue Anruferin, ebenfalls mit osteuropäischem Akzent. „Nie im Leben!“, flüstert Katharina Müller zu ihrem Mann und sagt laut ins Telefon: „Das machen wir nicht!“ – „Die Safes der Staatsanwaltschaft sind aber im Keller des Lokals!“ – „Aber da drinnen doch nicht!“ – „Gut, dann holt Herr Kutschlik den Schmuck ab!“, sagt die „Staatsanwältin“ in „frecher werdendem Ton“, wie sich Katharina Müller erinnert.

    Die Eltern wollen den Sohn sprechen und hören eine Bandaufnahme

    „Dr. Linnemann“ merkt vermutlich, dass bei dem Ehepaar angesichts der schäbigen Gegend „das Gehirn wieder anfängt zu arbeiten“, wie es Bernhard Müller sagt. Er und seine Frau wollen nun ihren Sohn noch einmal sprechen, wieder folgt die Bandaufnahme. Doch dieses Mal hört auch Katharina Müller die Stimme. „Das ist nicht mein Sohn“, schießt es durch ihren Kopf.

    Derweil wird die „Staatsanwältin“ ungeduldiger: „Sie machen sich Gedanken wegen 75 000 Euro, und ihr Sohn hat zwei Menschen totgefahren. Die Mutter ist auch gestorben.“ Gleichzeitig baut die Anruferin weiter Druck auf: „Ihr Sohn droht, sich das Leben zu nehmen.“ Da hat Bernhard Müller einen Einfall: „Fragen Sie Peter, wie der Hund seines Bruders heißt.“ Stille in der Leitung. Kurz darauf „Dr. Linnemann“: „Ihr Sohn ist völlig durcheinander, er weiß den Namen nicht.“

    Plötzlich steht ein Mann neben dem Auto. „Er sah schmuddelig aus. Die Kleidung, seine schwieligen Hände, so sieht keiner aus, der für die Justiz arbeitet“, schießt es Bernhard Müller durch den Kopf. „Das ist Herr Kutschlik. Geben Sie ihm den Schmuck!“, befielt die „Staatsanwältin“. „Nein!“

    Der Kurier steht immer noch neben dem Wagen. Er holt sein Handy heraus und sucht sofort das Weite. „Dr. Linnemann“ schäumt vor Wut: „Sie haben mir meinen Feierabend versaut! Das gibt eine Strafanzeige und einen Strafzettel über 8000 Euro!“ Doch die Müllers sind schon losgefahren und beenden in diesem Moment den Anruf. Es ist 16.30 Uhr, nach guten viereinhalb Stunden endet das Drama.

    Der Rest ist schnell erzählt. Das Ehepaar ruft mit dem letzten Strom in seinem Handy die Würzburger Polizei an, und auf der dortigen Direktion dann auch seinen Sohn Peter. Es geht ihm gut.

    Weniger gut geht es heute den Müllers. Als sie am Freitagabend wieder zu Hause sind, spielen sie die Ereignisse immer wieder in ihrem Kopf durch. „Die Anrufer waren auf alles vorbereitet, das waren Profis.“ Katharina Müller macht sich immer noch Vorwürfe: „Ich wusste intuitiv, dass etwas falsch lief, aber ich habe mir sehr große Sorgen um das Leben meines Sohnes gemacht.“

    Der Kurier wurde festgenommen, die Telefonbetrüger nicht

    Der Kurier „Herr Kutschlik“, der bereits von der Polizei observiert worden war, wird übrigens am gleichen Tag bei Aschaffenburg in einem Zug verhaftet. Dagegen fehlt von den Anrufern, die natürlich nicht von der Staatsanwaltschaft waren, jede Spur. „Dr. Bach“, „Dr. Linnemann“ und „Frau Krause“ sitzen höchstwahrscheinlich in einem Kriminellen-Callcenter im Ausland und versuchen weiter, andere Menschen um deren Eigentum zu betrügen. Bei den Müllers hat es nicht geklappt.

    *Name von der Redaktion geändert

    Tipps der Polizei• Lassen Sie sich den Namen des Enkels oder Sohnes nennen. Bleiben Sie dabei hartnäckig oder nennen Sie selbst einen falschen Namen, um die Identität des Anrufers zu prüfen. • Übergeben Sie niemals Geld oder Wertsachen an Ihnen unbekannte Personen. • Die Nummer auf dem Telefondisplay liefert lediglich einen Anhaltspunkt, wer der Anrufer sein könnte. Sie ist keineswegs eine sichere Identifikationsmöglichkeit. • Sprechen Sie am Telefon nie über Ihre persönlichen und finanziellen Verhältnisse. Geben Sie niemals Kontodaten oder Passwörter am Telefon preis oder gleichen Sie diese niemals mit einem Anrufer ab. • Lassen Sie sich am Telefon niemals unter Druck setzen – auch nicht von angeblichen Polizisten. • Bei verdächtigen Anrufen: Legen Sie einfach den Hörer auf!

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden