Lydia Faggioni hat Schluss gemacht. Das Kapitel „Eiscafé Dolomiti“ liegt hinter ihr. Die Frau, die 1974 nach Lichtenfels kam und halbjährlich zu einem Lichtenfelser Gesicht, zu einer Lichtenfelser Institution wurde, liebt Lichtenfels. Aber in ihrer Heimat, den Dolomiten, warten ihre Nipoti - ihre Enkel. Wie viel Lichtenfels wird sie in den Ruhestand mitnehmen?
Innenarchitektin
Lydia Faggioni (85) war Innenarchitektin. Das weiß auch nicht jeder. An diesem Tag, es ist noch Vormittag, steht sie dunkel gekleidet an der Theke und nimmt aus den Händen von Eismacher Rudy Lanz eine Bestellung entgegen, um sie an den Tisch eines Gastes zu tragen. Wie viele Kilometer sie wohl hier in dem Eiscafé der Bahnhofstraße in all den Jahrzehnten gegangen ist?
Ein paar Minuten später, selbst an einem Tisch sitzend, wird sie über diese Frage schmunzeln und sich die Antwort durch den Kopf gehen lassen. Sie wirkt still, besonnen und ein bisschen wehmütig.

Was dann passiert, passierte ihr in den vergangenen Tagen so oft: Jemand tritt an sie heran, will sich persönlich verabschieden und überreicht ein Geschenk. Es ist Renate Gareis, die eine ganz klare Meinung zu Lydias Eis hat: „Es ist das beste Eis in Deutschland.“
Rudys Tipps waren begehrt
Dabei wendet sie sich auch Rudy Lanz zu, dem Eismacher, der mit dem TV-Moderator Markus Lanz nicht ganz unverwandt ist und, 61-jährig, seine Koffer für die dolomitische Heimat auch schon gepackt hat. Gareis hat noch eine Fage: „Was mach' ich falsch, wenn mein Zitroneneis kriselig wird?“ Und Rudy Lanz sagt auch etwas: „Weißt du, wie viele Hausfrauen mich privat angerufen haben, um Rezepte zu bekommen?“
Lydia Faggioni lacht jetzt. „Si, telefonisch haben sich Gäste auch schon verabschiedet. Und Kinder haben sogar selbst gemalte Zeichnungen gebracht“, erklärt sie.
Abschied fällt sehr schwer
Und dann geht es in die Tiefe, zu einer Art von Lebensbilanz: „Fast alle meine Bindungen im Leben, wohl 90 Prozent, habe ich in Lichtenfels. Deswegen ist es auch sehr schwer, Abschied zu nehmen.“

Vor rund zwei Wochen war auch Bürgermeister Andreas Hügerich bei ihr zu Gast, um Abschied zu nehmen. Auch von ihm und der Stadt erhielt sie ein Geschenk. Einen Korb, einen sehr schönen Korb, ein exklusives Stück, auf das sie sehr stolz ist.
Fan von Vierzehnheiligen
Vierzehnheiligen liegt 390 Meter über dem Meeresspiegel. Manchmal konnte man Lydia Faggioni hier, an einem ihrer Lieblingsorte, antreffen. Dann, wenn sie Ruhe suchte. Oder die Musik von Regionalkantor Georg Hagel. „Der spielt, dass die Wände beben, vor lauter Kraft“, schildert die Signora und wird dabei gestikulierend. Vierzehnheiligen wird ein Ort sein, den sie vermissen wird, der ihr heimatlich geworden ist.
Wie sie so erzählt, kommt sie auf das Lichtenfels zu sprechen, dem sie 1974 erstmals begegnete. „Ich brauchte nicht mehr überlegen, wo ich gelandet bin. Ich habe mich gleich wohlgefühlt“, sagt sie. Und dann habe sie auch bald an der Volkshochschule einen Italienisch-Kurs für Lichtenfelser angeboten und gestaltet. Oder wie sie sagt: „Ich hab' mich getraut.“
Rückblende: 1958 eröffnete die Eisdiele ihrer Familie am Oberen Tor, sieben Jahre später diese zweite in der Bahnhofstraße, neun Jahre später kam sie nach Lichtenfels. Von einer Deutschen Korbstadt war noch lange keine Rede, es waren die 1970-er, man trug Schlaghosen, in der Innenstadt standen noch Parkuhren, verkehrsberuhigt war hier noch gar nichts und überhaupt war die Zeit eine andere.
„Ich liebe Lichtenfels. Und alles, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit!“
Dann war sie wieder da, die Frage danach, wie viele Kilometer sie seitdem wohl in dieser Eisdiele bedienend, beratend, dirigierend und begrüßend zurückgelegt hat. Jetzt aber trifft mit Stefan Kaiser ein weiterer Gast ein, der sich persönlich von ihr verabschieden will und ein Abschiedsgeschenk dabei hat. Auch er lässt sich die Frage nach der Kilometerzahl durch den Kopf gehen, überschlägt die Anzahl der Wochen- und Arbeitstage, multipliziert sie mit den Jahren und Kilometern und so kommt man gemeinsam auf wohl 50.000 Kilometer.
Arbeitgeberin für...?
Entscheidungen – das Leben fordert sie von jedem von uns. Die schwerste Entscheidung, die das Leben Lydia Faggioni abverlangte, hatte sie in Lichtenfels zu treffen gehabt. Damals, 1989 und den Umbau der Eisdiele betreffend.
Dann taucht eine weitere Frage auf: Wie vielen Lichtenfelsern das Dolomiti unter Lydia Faggioni wohl Arbeit gegeben hat? Das Hauptpersonal, so ist zu erfahren, war immer italienisch beziehungsweise aus der Familie. Aber es dürften wohl über 40 Aushilfskräfte gewesen sein, wenn nicht gar mehr, so Lanz. Und Kaiser geht noch eine mathematische Stelle weiter: „Hunderte.“
Wie Faggioni wieder darauf zu sprechen kommt, dass 90 Prozent ihrer Kontakte und Freunde, auch „engste Freunde“, von hier seien, tut sich dazu eine Frage auf: Liegen manche von ihnen auf dem Lichtenfelser Friedhof und ist auch er ein Ort, der für sie Lichtenfels ist? Oder andersrum: Falls sie mal nach Lichtenfels zu Besuch kommen sollte, würde sie dann auch den hiesigen Cimitero, Camposanti beziehungsweise. die Necropoli gehen? „Si“, bekräftigt Faggioni in entschlossenem Tonfall.
Und dann kommt sie auf das zu sprechen, was sie an Lichtenfels gar nicht mag: „Ab Herbst das graue Wetter.“ Zu dem Gesagten bestellt sie sich ihr ganz persönliches Lieblingseis: Trüffeleis. Die Entscheidung zu gehen, sei erst vor zwei Monaten gefallen. Doch, ja, sie würde gerne zu Besuch wiederkommen. Vielleicht zum Korbmarkt und vielleicht zum Schützenfest - „aber alles mit einem Vielleicht“, wie Faggioni sagt.
An diesem Tag hat es noch einige Lichtenfelser ins Dolomiti gezogen, um sich bei Rudy Lanz und Lydia Faggioni persönlich zu bedanken und zu verabschieden. Und dann taucht doch noch eine Frage auf, eine allerletzte: Was hat sie in Lichtenfels gelernt? Faggioni lacht, verschmitzt, milde und ganz wie eine nobile Signora. „Ich hab' keinen Bock“, sagt sie. Diesen Satz habe sie immer wieder mal aufgeschnappt und sich gefragt, was der wohl zu bedeuten habe. Dann habe sie es sich erklären lassen und fand es lustig. „Ich liebe Lichtenfels. Und alles, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit“, schließt sie.
Ein Foto von Lichtenfels, so sagt sie außerdem, wird sie bei sich daheim in ihrer Toblacher Wohnung im Pustertal hängen haben. Die Abreise ist vor einigen Tagen erfolgt, jetzt kommt Lydia Faggioni im Eiscafé und in Lichtenfels nicht mehr vor.