Eine besondere Führung hat Wolfgang Vorwerk kürzlich auf dem Lohrer Friedhof geleitet – sie erinnerte an die Deportationen vor 85 Jahren und vier Menschen aus Lohr, die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde wurden. Ihr schreckliches Ende blieb lange im Dunkeln – nun werden ihre Namen, Geschichten und Grabsteine in das Licht der Erinnerung gerückt.
Wie 70.000 andere Opfer wurden 1940 auch Else Kessler, Klara Ott, Katharina Schwind und Hildegard Scheuplein aus Lohr in eigens eingerichteten Tötungsanstalten des Reichs ermordet – weil geistig, seelisch und körperlich behinderte Kranke als „lebensunwert“ galten. Ihre Namen gerieten über Jahrzehnte in Vergessenheit. Erst durch akribische Recherchen von Clemens Hauck, Franz Wolf und Wolfgang Vorwerk konnten die Schicksale dieser Menschen rekonstruiert werden.
So ist Else Kessler zu nennen, Tochter des langjährigen Lohrer Bürgermeisters Joseph Kessler. Die Familie wurde durch eine Münchner Initiative 2015 auf das wahre Ende aufmerksam gemacht. Klara Otts Geschichte wurde erstmals 2013 in einer Ansprache zum Volkstrauertag von Franz Wolf öffentlich erzählt. Die Namen Schwind und Scheuplein tauchten durch familiäre Hinweise nach einem Vortrag von Vorwerk 2022 auf.
Viele falsche Spuren sollten die Wahrheit vertuschen
Dass ihre Geschichten so lange verborgen blieben, lag nicht nur an familiärem Schweigen oder Scham – viele Angehörige erhielten 1940 bewusst falsche Angaben von den Behörden, da die Mordaktion eine geheime Reichssache war und vertuscht werden sollte. „Lungenentzündung“ war eine typische Todesursache. So blieb das wahre Schicksal der Deportierten oft unklar. Ein „vages Gefühl“, dass etwas nicht stimmen könne, blieb in manchen Familien. Die Namen wurden in Lohr auf Grabsteine geschrieben – mehr blieb den Familien meist nicht übrig. Erst die Enkelgeneration wagte die Nachforschungen.
Else Kessler war das „Nesthäkchen“ der Familie. Sie wurde Lehrerin in München, erkrankte aber bald an Schizophrenie. Klara Ott, Mutter von drei Kindern, wurde depressiv, als ihr Mann nicht mehr aus dem Ersten Weltkrieg zurückkam. Katharina Schwind war ein ganz normales, fröhliches Mädchen, ehe sie mit 15 Jahren geistig erkrankte. Von Hildegard Scheuplein weiß auch die Familie nicht viel. Katharina Schwind starb an Unterernährung in Großschweidnitz bei Pirna (Sachsen).
Diese Orte des Grauens haben heute Gedenkstätten - viel zu spät für viele Familien, die nach Wahrheit suchten.
Wolfgang Vorwerk wurde erst im Zug seiner Recherchen zur Deportation von 19 jüdischen Patienten aus dem Bezirkskrankenhaus Lohr im September 1940 auf das Thema aufmerksam. Damals entdeckte er, diese Deportation der jüdischen Kranken war nur der Auftakt: Schon Anfang Oktober 1940 wurden in wenigen Tagen 660 nichtjüdische Patientinnen und Patienten aus Lohr und Werneck deportiert. Mit einer letzten Deportation von 100 Kranken aus Lohr im November 1940 stieg die Zahl auf 760 Menschen. Sie gehörten zu den 70.000 Opfern des zentral von Berlin aus gesteuerten NS-Euthanasie-Mordprogramms im Deutschen Reich.
Wolfgang Vorwerk will Schicksale vor dem Vergessen bewahren
Die Führung sollte diesen Opfern ein Gesicht geben. „Die unvorstellbaren Zahlen werden oft nur abstrakt genannt“, sagte Vorwerk. „Aber hier, an den Gräbern in Lohr, bekommen sie Gesichter, Lebensgeschichten – und eine würdige Erinnerung.“
Dass der Deutsche Bundestag im Januar 2025 die Opfer der Euthanasie-Morde offiziell als Verfolgte des NS-Regimes anerkannt hat, sei ein wichtiges Signal. Gleichzeitig fordert das Parlament mehr Bildungsarbeit zu diesem Thema – insbesondere in medizinischen und pflegerischen Berufen. In Lohr geschieht dies bereits seit einigen Jahren durch Vorträge von Vorwerk im Bezirkskrankenhaus vor Pflegeschülerinnen und Pflegeschülern und Gymnasiasten.
„Es ist mir ein persönliches Anliegen, diese Lebensgeschichten und Schicksale bewusstzumachen“, sagte Vorwerk: „Der Holocaust begann in der Psychiatrie. Diese Führung will erinnern – aber auch mahnen. Gerade heute, wo menschenverachtende Ideologien wieder zunehmen, ist das wichtiger denn je.“
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