Um die Leben ihrer Mitarbeiter besser zu schützen, trainiert die Hilfsorganisation World Vision für den Ernstfall auf dem Truppenübungsplatz der Bundeswehr in Wildflecken im Landkreis Bad Kissingen. Unser Autor recherchiert häufig in Krisengebieten. Er hat das Training mit den Entwicklungshelfern absolviert.
Wenn du mich noch einmal anguckst, steche ich dir die Augen aus“, brüllt der Typ mit dem riesigen Messer in der Hand. Neben ihm stehen zwei Maskierte und richten ihre Kalaschnikows auf mich. Kurz darauf unterschreibe ich ein Geständnis, dass meine Kollegen an Massenvergewaltigungen beteiligt waren. Ich bin in der Gewalt von Rebellen in Ganton. Das fiktive Bürgerkriegsland befindet sich auf dem Gelände der Bundeswehrkaserne Wildflecken in der Rhön. Zusammen mit Mitarbeitern der Hilfsorganisation World Vision werde ich hier auf Einsätze in Kriegs- und Krisengebieten vorbereitet.
„Sie sind jetzt nicht mehr in Deutschland. Sie sind jetzt in Ganton. Hier ist es gefährlich, wir können nicht für Ihre Sicherheit garantieren“, sagt der Soldat, kurz nachdem ich die Kaserne betreten habe. In Ganton terrorisieren skrupellose Warlords die Zivilbevölkerung und auch Mitarbeiter der Vereinten Nationen, internationaler Hilfsorganisationen wie World Vision und Journalisten sind zur Zielscheibe geworden. Tausende sind auf der Flucht, eine Hungersnot droht. Das Szenario ist fiktiv – unrealistisch ist es nicht. Mit mir absolvieren 22 Männer und 14 Frauen, die für World Vision unter anderem in Afghanistan, Somalia, im Ostkongo, im Südsudan und im Niger arbeiten, das Training. Sechs Trainer und ein Psychologe sollen uns beibringen, wie wir in Krisengebieten arbeiten und Geiselnahmen überleben können.
„Es bringt mir nicht Spaß, euch zu quälen, aber ich muss euch ein gutes Stück aus der comfort zone holen, um euch für eure gefährlichen Einsätze vorzubereiten“, sagt Trainingsleiter Scott Raesler. Der muskelbepackte Kanadier mit den kurz geschorenen Haaren arbeitete als Soldat, Sicherheitsoffizier der Vereinten Nationen, Polizist und Inhaber einer eigenen Sicherheitsfirma unter anderem in Afghanistan, im Irak und im Kosovo. Ich glaube, es bringt ihm doch ein bisschen Spaß, uns zu quälen.
Als Erstes schnüren er und seine Männer uns mit Kabelbindern die Daumen zusammen und stülpen uns wie bei Geiselnahmen schwarze Säcke über das Gesicht. Ich weiß, dass ich unter dem dunklen Stoff nicht ersticken werde, aber beim Einatmen legt sich das bald schweißnasse Tuch sich wie eine Totenmaske über mein Gesicht. Immer schneller schnappe ich nach Luft. Mit ausgestreckten, gefesselten Armen knie ich auf Beton. Wie ein ehrfürchtig Betender. Wäre dies keine Simulation, ich würde jetzt wahrscheinlich wirklich beten. Neben mir knien World-Vision-Mitarbeiter, die schon einmal entführt wurden. Später berichten sie von ihren Flashbacks.
Nie zuvor hat es so viele Anschläge auf Entwicklungshelfer gegeben wie 2012 (aktuellere Zahlen liegen nicht vor): 67 Entwicklungshelfer wurden getötet, 115 schwer verletzt und 92 entführt. Die meisten tödlichen Zwischenfälle gab es in Afghanistan, in Pakistan, im Südsudan, in Somalia und in Syrien. Der beunruhigende Trend setzt sich fort. So wurden Anfang August im Südsudan sechs humanitäre Helfer getötet, die Vereinten Nationen zogen daraufhin einen Teil ihres Personals ab. Die Zahl der Entführungen von Entwicklungshelfern hat sich laut der internationalen Forschungsgruppe „Humanitarian Outcomes“ in den letzten zehn Jahren vervierfacht. 80 Prozent der Opfer überleben die Entführungen, viele von ihnen werden nach wenigen Tagen freigelassen. Doch zwei spanische „Ärzte ohne Grenzen“-Mitarbeiterinnen, die 2011 an der kenianisch-somalischen Grenze gekidnappt wurden, kamen erst nach 644 Tagen frei.
„Seitdem manche bewaffneten Konfliktparteien die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen als legitime Ziele sehen, ist die Arbeit in Kriegs- und Krisenregionen schwieriger geworden. Vor allem Organisationen, die mit dem Westen und den USA in Verbindung gebracht werden, sind gefährdet“, sagt Trainingsleiter Scott Raesler. Seit dem US-Einmarsch im Irak vor 23 Jahren habe sich die Zahl der Anschläge drastisch erhöht, dennoch habe es lange gedauert, bis die Hilfswerke darauf angemessen reagiert hätten. „Zuvor galt der gute Ruf und die gemeinnützige Arbeit quasi als Lebensversicherung für die Mitarbeiter. Doch mittlerweile haben World Vision und andere erkannt, dass dies nicht mehr ausreicht und investieren deshalb in Sicherheitstrainings“, sagt Raesler.
Rund 1400 Euro pro Person kostet der von 60 Bundeswehrsoldaten unterstützte Kurs. Der Aufwand ist groß, doch er lohnt sich, meint Psychologe Don Bosch. „Extremer Stress und Panik erschweren es, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Deshalb versuchen wir, den Teilnehmern beizubringen, auch in Gefahr die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das kann man nicht aus dem Lehrbuch, sondern nur durch die Simulation von Gefahr lernen“, sagt der Amerikaner.
Um uns unter Stress zu setzen, werden wir mit Übungshandgranaten beworfen, bei Lebensmittelverteilungen aus Pistolen, Kalaschnikows und Maschinengewehren mit Platzpatronen beschossen, geraten mehrfach in Minenfelder, Hinterhalte und Kreuzfeuer, werden von aufgebrachten Einheimischen beinahe gelyncht, von Rebellen an illegalen Straßenblockaden ausgeraubt und von korrupten Grenzsoldaten erpresst. Wir lernen, uns unter Beschuss einen Druckverband anzulegen, Techniken der Konfliktdeeskalation und uns mit Kompass, Karte und Überlebensrucksack alleine durchzuschlagen. Zudem müssen vor allem die Frauen im Team ständig mit sexuellen Übergriffen rechnen.
Ich bin kein Kriegsreporter, der immer dort ist, wo es kracht, kein Frontschwein, das erst Betriebstemperatur erreicht, wenn Kugeln fliegen und das Blut mit Adrenalin gesättigt ist. Aber für Recherchen bin ich oft an Orten, an denen Anschläge verübt werden, an denen Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen entführt und getötet wurden und die ich teilweise nur mit bewaffnetem Begleitschutz bereisen kann. Was ich im Training lerne, werde ich dort gut gebrauchen können.
Der Gestank des Angstschweißes
Wenn ich nicht gerade auf Recherche bin, wohne ich am Prenzlauer Berg in Berlin. Dort besteht die größte Gefahr wohl darin, von einem Kinderwagen angefahren zu werden. In Berlin kontrolliere ich nicht, ob jemand eine Bombe an meinem Auto befestigt hat, bevor ich losfahre. Ich achte nicht darauf, ob Scharfschützen auf den Dächern positioniert sind oder ob mir ein potenzieller Selbstmordattentäter zu nahe kommt. Doch die als Rebellen und Regierungssoldaten verkleideten Bundeswehrsoldaten sorgen dafür, dass Ganton schnell Realität wird und die heile Welt des Prenzlauer Bergs in Vergessenheit gerät.
Mit verbundenen Augen knien die Entwicklungshelfer und ich in einem feuchten Keller und müssen immer wieder die absurden Regeln der sadistischen „Geiselnehmer“ brüllen. Nach spätestens einer Stunde sind die Stimmen heiser und gebrochen. Mittlerweile fällt es mir leichter, meine Mitgefangenen am Gestank ihres Angstschweißes als an ihren Stimmen auseinanderzuhalten. Wenn wir nicht brüllen, müssen wir Liegestütze und Sit-ups machen. Bis zur Erschöpfung. Als meine verkrampften Muskeln zucken, brüllt einer der Geiselnehmer: „Hör sofort auf zu zittern!“ Die Ausbilder hatten uns zu Beginn des Trainings gesagt, dass sie uns an unsere Grenzen führen würden. Psychisch und physisch. Woher wollen sie wissen, wann diese Grenze überschritten ist?
Im Theorieteil hatten wir gelernt, im Falle einer Gruppengeiselnahme „den grauen Mann“ zu spielen. Nicht der Schwächste, nicht der Stärkste, nicht der Hysterischste, nicht der Coolste. Bloß nicht auffallen, denn die „grauen Männer“ haben bei Entführungen die besten Überlebenschancen. Allerdings ist es nicht ganz einfach, „den grauen Mann“ zu spielen, wenn alle dieselbe Strategie verfolgen.
Während die Geiselnehmer uns anbrüllen, quälen, Folter androhen, ins Gesicht rülpsen und direkt neben uns fröhlich pfeifend pinkeln, muss ich immer wieder an meinen Freund und Kollegen denken. Zehn Monate war der erfahrene Kriegsreporter in Syrien in der Gewalt von Entführern. Meine „Geiselhaft“ endet nach wenigen Stunden. Ich hoffe, es bleibt meine einzige.