Werner lehnt sich entspannt zurück und genießt die Aussicht auf den Garten. Zwei Kirschbäume stehen gerade in voller Blüte. Der graue Haarkranz des älteren Mannes ruht auf bunt-gemusterten Polstern.
Eine Idylle, die nur von einem kleinen Detail durchbrochen wird. Die Terrassentür, durch die Werner gerade spaziert ist, lässt sich, kaum ist sie einmal ins Schloss gefallen, nur noch mit einem Spezialschlüssel öffnen. Werners derzeitige Adresse lautet: Haus 9, Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin im Bezirkskrankenhaus (BKH) Lohr.
Wenn das Haus voll belegt ist, leben bis zu 25 Patienten in der Gerontopsychiatrie, der Psychiatrie für ältere Menschen. Normalerweise liegt das Alter der Bewohner bei 65 Jahren und darüber. Sie leiden an den für das Alter typischen Krankheitsbildern wie Alzheimer oder Altersdepressionen. Seit etwas mehr als einem halben Jahr arbeitet Katharina Ruß aus Burgsinn im Haus 9.
„Und selbst wenn ein Patient sich einmal komisch verhält, ist er doch im nächsten Moment wieder liebenswürdig.“
Katharina Ruß FSJ-Absolventin
Die junge Frau absolviert dort ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ). 195 Euro Taschengeld pro Monat sowie freie Kost und Logis bekommt sie für ihren Einsatz. Große Sprünge kann man damit nicht machen. Doch darauf kommt es der jungen Frau auch gar nicht an. „Ich habe die Schule in der 12. Klasse abgebrochen“, erzählt sie. „Danach wusste ich nicht so recht, wie es weitergehen soll“. Die Burgsinnerin mit den langen schwarzen Haaren wollte sich erst einmal orientieren, anstatt Hals über Kopf eine Lehre zu beginnen. Nach einem Schnuppertag am Bezirkskrankenhaus in Lohr war ihr klar, hier wollte sie bleiben.
Vier FSJ-Stellen bietet das BKH pro Jahr an. Dazu kommen über 150 Praktikumsstellen. „Wir wollen damit natürlich Arbeitskräfte für den Pflegebereich anwerben. Aber es geht auch darum, junge Menschen als Multiplikatoren zu benutzen, um Ressentiments abzubauen“, erzählt Marianne Schaffarczik, Diplom-Pflegewirtin und Pflegedienstleiterin am BKH. „Viele glauben, dass die Patienten hier, wie oft in Filmen gezeigt wird, einfach allein und ohne Ansprache in einem grauen Flur vor ihren Zimmern sitzen.“
Mit Vorurteilen aufräumen
Mit diesen Vorurteilen möchte Schaffarczik gerne aufräumen. Dabei sollen junge Menschen wie Katharina Ruß helfen. Wenn die 19-Jährige von ihrem Arbeitsalltag erzählt, leuchten ihre Augen und sie strahlt. Die Arbeit mit den älteren Menschen mache ihr großen Spaß. „Ich finde es schön, Teil eines Teams zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Mache ich einen Fehler, muss ich auch dafür gerade stehen.“ Der Berufsalltag stellt für die ehemalige Gymnasiastin eine ebenso neue wie lehrreiche Erfahrung dar.
Dass das BKH trotz idyllischer Gartenanlage und schmucken Häuschen kein Naherholungsheim ist, hat Katharina Ruß erlebt. Es gibt Patienten, die aggressiv sind, wenn sie eingeliefert werden. Es gibt Patienten, die manchmal mit erhobener Hand drohen oder unflätige Bemerkungen machen. Auch hat sie Patienten erlebt, die sich von einer Sekunde auf die andere auf den Boden werfen und anfangen zu schreien.
Aber das seien Ausnahmesituationen, sagt Ruß. „Und selbst wenn ein Patient sich einmal komisch verhält, ist er doch im nächsten Moment wieder liebenswürdig.“ Viel häufiger erlebe sie Situationen, in denen es etwas zu lachen gibt. Es ist einfach schön, wenn Patienten sich wie „die Schneekönige“ darüber freuen, sie zu sehen, oder, dass sie sich an ihren Namen erinnern können, obwohl sie den einer anderen Pflegekraft nicht behalten.
In Haus 9 gehört Katharina Ruß zu einem festen Team, muss in der Früh- oder in der Spätschicht ihren Dienst leisten. Betten machen, Patienten waschen, Essen verteilen, den Bewohnern etwas vorlesen, mit ihnen spazieren- und auf die Toilette gehen. All das gehört zu ihren festen Aufgaben. Berührungsangst hatte die 19-Jährige von Anfang an keine. „Ich dachte zwar, dass ich mich zum Beispiel beim Toilettengang ekeln würde. Aber das war nicht der Fall. Schließlich trägt man Handschuhe.“
Verantwortung übernehmen
Die Zeit im Haus 9 hat Katharina Ruß verändert. „Ich bin erwachsener geworden. Selbstbewusster“, sagt sie. „Außerdem habe ich gelernt, Verantwortung zu übernehmen.“ Und noch etwas hat sich verändert: Die 19–Jährige weiß jetzt genau, was sie einmal werden möchte. Sie wird zwar keinen reinen Pflegeberuf ergreifen, hat aber das Ziel, das Abitur nachzumachen und im Anschluss Sozialpädagogik zu studieren.
Werner möchte jetzt erst einmal eine Zigarette rauchen, Katharina Ruß setzt sich zu ihm auf den Balkon, reicht ihm Glimmstängel und einen Aschenbecher. Jetzt macht sich auf dem Gesicht des älteren Herren ein strahlendes Lächeln breit.
Freiwilliges Soziales Jahr
Für diesen sozialen Freiwilligendienst können sich Jugendliche und junge Erwachsene bewerben, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Das FSJ dauert mindestens sechs und höchstens acht Monate. Es soll dazu dienen, jungen Menschen bei der Persönlichkeitsbildung zu helfen, ihnen berufliche Orientierung zu geben und ihnen soziale Kompetenzen vermitteln.
Bewerbungen für das Freiwillige Soziale Jahr können bei der Katholischen Mädchensozialarbeit, Diözesanverband Würzburg e.V., Franziskanergasse 3, 97070 Würzburg, Tel. (09 31) 38 66 67 18 abgegeben werden.
Über die FSJ-Einsatzstelle am BKH Lohr informiert Marianne Schaffarczik, Tel. (0 93 52) 50 33 60.
ONLINE-TIPP
Mehr Informationen zum Freiwilligen Jahr im Internet: www.mainpost.de/lokales/main-spessart/gemuenden