Josef, der passionierte Handwerker, liegt noch in seinem Bett. Seine Mitbewohnerin Anna ist dagegen hellwach, sie hält gerne ein Schwätzchen, liebt kleine Scherze und feiert für ihr Leben gerne. Sie ist, was man guten Gewissens die Stimmungskanone der WG nennen kann. Emma ist dagegen eher eine ruhigere Zeitgenossin. Der zweite Josef in der Runde strahlt über das ganze Gesicht, was wahrscheinlich daran liegt, dass er gerade alleine mit Anna und Emma um den großen Tisch im Wohnzimmer der WG sitzt.
In einem Eck des Zimmers steht ein kleiner Fernseher, daneben eine Couch, auf der gut und gerne sechs Leute Platz haben. Josef hat sie aus seiner alten Wohnung mit in die WG gebracht. Insgesamt vier Männer und zwei Frauen teilen sich das Haus in der Wolfsmünsterer Straße in Seifriedsburg. Sie essen gemeinsam, sie spielen und sie feiern gemeinsam, kurzum sie wohnen zusammen. An sich nichts ungewöhnliches. Doch das Durchschnittsalter dieser WG liegt nicht bei 18, sondern bei über 80.
Anna wird im Herbst sogar schon 90 und sprüht geradezu vor Lebensfreude. Ganz besonders stolz ist die Seniorin auf ihr Zimmer. Bevor sie in ihr rund 16 Quadratmeter großes Reich eingezogen ist, hat sie neue Möbel ausgesucht. An der Wand hängen Bilder von ihrem Sohn, den Enkeln und Urenkeln. „Gefällt es Ihnen?“, fragt Anna stolz, sie bewegt sich mit ihrem Rollator ganz selbstverständlich durch die Räume, und das obwohl sie kaum noch etwas sieht. „Wenn ich die Wege ein paar Mal gegangen bin, dann weiß ich eben, wo ich hin muss.“
Ambulante Betreuung
Josef leidet an der Parkinson- Krankheit und kann sich nicht mehr allein bewegen. Er sitzt in einem verstellbaren, schwarzen Spezialledersessel, damit er keine Druckstellen bekommt. „Das war ein Weihnachtsgeschenk meiner Kinder“, erzählt er. Bevor Josef nach Seifriedsburg in die WG gezogen ist, lebte er alleine. „Aber das ging auf Dauer nicht mehr“, sagt Christiane Ritschel, die ihn bereits während dieser Zeit ambulant betreut hat. Die gelernte Krankenschwester leitet mit Krankenpfleger Christof Bergmann die Sozialstation Bergmann-Ritschel, die die Senioren-WG ambulant betreut.
Tagsüber kümmern sich zwei Pflegekräfte um die Bewohner, außerdem kommen eine Hauswirtschafterin und eine Köchin ins Haus. Nachts steht ebenfalls ein Betreuer bereit. Alles ist auf die Bedürfnisse der Bewohner zugeschnitten. Anna ist eine Frühaufsteherin. Sie bekommt ihr Frühstück um 8.30 Uhr serviert, Emma dagegen frühstückt erst um halb Neun. Einen festen Zeitplan gibt es nicht. „Wir richten uns da ganz nach den einzelnen Geschmäckern“, sagt Ritschel. Das gilt für alle Mahlzeiten. Wer keine Kartoffeln mag, bekommt eben Nudeln zum Rindfleisch. Kein Wunder, dass Anna sagt: „Ich bin hier zu Hause.“
Zu diesem Gefühl trägt nicht zuletzt das Ambiente bei: Der Flur hängt voller bunter Bilder. Franz und Anna wie sie beim Kappenabend fröhlich in die Kamera lächeln. Ein selbst gebasteltes Herz, um das Fotos der einzelnen Bewohner herumgruppiert wurden, hängt ebenfalls dabei. Die Mitbewohner sind im August 2008 in das Haus eingezogen. Mit der breiten Treppe und dem großen Flur ist es optimal geschnitten. Ein Treppenlift überbrückt den Weg vom Obergeschoss in die untere Etage. Für maximal zwölf Personen soll es Platz bieten, wenn alle Umbaumaßnahmen abgeschlossen sind. Wer einziehen darf, entscheidet allein das Bewohner-Gremium. Schließlich muss, wie bei jeder andere WG auch, die Chemie stimmen. Und das tut sie. Dass Handwerker Josef in seinem Zimmer auch mal nachts die Flex anwirft, stört Zimmernachbarin Anna nicht.
Eine Hand wäscht die andere
Zum einen hört sie nicht mehr so gut, zum anderen hat sie schon von Josefs handwerklichen Fähigkeiten profitiert. „Meine Uhr ist mir runtergefallen, und dann ging sie nicht mehr, aber Josef hat sie repariert.“ Eine Hand wäscht die andere, ob mit 18 oder mit 80. Natürlich gibt es auch mal kleinere Reibereien, aber die gibt es schließlich in jeder WG. Nur, dass sich die Streitereien hier nicht um schmutzige Wäsche oder den Putzdienst drehen. Auch die Gespräche sind anders. Josef wurde im Krieg angeschossen, Anna hat zahlreiche Operationen hinter sich. Die Vergangenheit ist hier so lebendig wie die Gegenwart.
Die Idee zu dieser WG hatte der Vermieter des Hauses gemeinsam mit der Sozialstation Bergmann-Ritschel. „Ein Modell mit Zukunft“, glaubt Ritschel. Die Bewohner geben ihr recht – jeder einzelne von ihnen: die quirlige Anna, die ruhige Emma und der strahlende Josef.
Nähere Informationen bei der Sozialstation Bergmann-Ritschel Langenprozeltener Straße 18, Gemünden unter Tel. (0 93 51) 6 00 33-0