Das Theater! Ein Fels in der Brandung täglicher Ruhe- und Rastlosigkeit. Ein Ort der Abwechslung, Unterhaltung, Kultur. Der Zuschauer soll hier Erbauung finden, angeregt werden – die Schauspieler, Tänzer, Musiker gehen manchmal an die körperlichen und psychischen Grenzen dafür. Motiviert müssen sie sein und belastbar, denn der Spielplan ist dicht gedrängt.
Wie ist es um das Wohlbefinden der Schauspieler, Musiker, Mitarbeiter bestellt? Das Staatstheater Meiningen und das Rhön-Klinikum in Bad Neustadt wollen dieser Frage genauer nachgehen. „Gesundheit am Meininger Theater“ heißt das Modellprojekt, das Intendant Ansgar Haag, Chefarzt Professor Dr. Sebastian Kerber und der Orchestervorstand der Meininger Hofkapelle, der Hornist Detlef Dreßler, ins Leben gerufen haben.
Einmaliges Projekt
Nachdem bereits seit einigen Jahren Musiker des Theaters Gesundheitsseminare und Workshops des Rhön-Klinikums besuchen, waren es nur ein paar Schritte zu einem alle Gewerke, alle Mitarbeiter umfassenden „Betreuungsprojekt“. Das stehe, so die Initiatoren, mit seinem Ganzheitsanspruch bisher einmalig da in der deutschen Theaterlandschaft. Denn eine ähnliche Kooperation zwischen der Berliner Charité und einem Orchester sei schon in der Ideenphase gescheitert.
Detlef Dreßler aber, der im Bundesvorstand der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) sitzt, hatte davon erfahren und nahm die Idee mit nach Meiningen.
Dort stieß er sowohl bei der Theaterleitung als auch bei Internist und Kardiologe Sebastian Kerber auf offene Ohren. Vielleicht auch deshalb, weil das Betriebsklima am Haus augenblicklich nicht besonders freudvoll sei, berichten die Kulturschaffenden: ein Wechsel in der Verwaltungsleitung, Arbeitsüberlastung in einigen Abteilungen, Mängel in der Disposition – das sorgte offenbar für ausgesprochenen Unmut von Mitarbeitern.
Keine eingebildeten Kranken
Alles Lappalien? Eingebildete Kranke? In Meiningen, wo die Welt noch überschaubarer und friedlicher scheint als anderswo, wollte man dagegen etwas tun und wagte sich an das Projekt „Gesundheit“. Dabei spielen die Cellistin Monika Gaggia, die einen ganzheitlichen musikphysiologischen Ansatz vertritt, und Mediziner Sebastian Kerber eine wichtige Rolle. Der Kardiologe und Herzchirurg hätte, wäre er nicht Arzt geworden, selbst gerne eine Laufbahn als Geiger eingeschlagen.
Was hilft: die geografische Nähe der beiden Institutionen. Der Campus Bad Neustadt des Rhön-Klinikums mit seinen Fachkliniken für Herz- und Gefäßkrankheiten, Neurologie, Psychosomatik, Suchterkrankungen, Hand- und Schulterchirurgie liegt nur 30 Kilometer Luftlinie vom Meininger Staatstheater entfernt.
Dass einst Moliere, Theaterdirektor und Darsteller des Hypochonders Argan in „Der eingebildete Kranke“, kurz nach einer Vorstellung starb, könnte man den finsteren Zeiten zuschreiben. Im Frankreich des 17. Jahrhunderts gab es weder Rahmen- noch Haustarife, keine Künstlersozialkassen, Betriebsräte, Therapieseminare, Workshops, Fortbildungskurse, Rehakuren und Mediationen im Konfliktfall, sondern – abgesehen von höfischen Theatern – nur Bretterbuden und Thespiskarren. Und heute? Da geht es noch immer darum, das Gute, Wahre und Schöne zutage zu fördern und den Fratzen des Bösen, Falschen und Hässlichen zu trotzen. Ganz dem verpflichtet, was einst der leidenschaftliche Theaterherzog Georg II. von Sachsen-Meiningen 1909 in den Giebel seines Theaters einmeißeln ließ: „Dem Volke zur Freude und Erhebung“.
An einem Haus mit solch hehrem Leitmotiv dürfen zwar Theaterblut, Schweiß und Tränen in rauen Mengen fließen, aber ansonsten sollte die Theatermaschine so reibungsarm laufen wie die multifunktionale Drehbühne im Großen Haus. Die Wirklichkeit freilich – sie ist nicht so. Die Prozesse hinter den Theatermauern laufen manchmal genauso unrund wie davor.
Von Allergie bis Versagensangst
Und so ist Projektkoordinatorin Monika Gaggia bereits in den ersten Wochen ihrer Lotsentätigkeit am Meininger Staatstheater mit allerlei Symptomen konfrontiert worden: mit Allergien oder Arthrose, Auftrittsängsten, Bandscheibenvorfällen, Bewegungsmangel oder Burn-out. Mit depressiven Verstimmungen, Diabetes, Engegefühlen, Heiserkeit, Herzrasen, Höhenangst, Karpaltunnelsyndromen, Knochenhautentzündungen, Kopfschmerzen. Und mit Lampenfieber, Mobbing, Nackenschmerzen, Osteoporose, Platzangst, Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Schulterverspannungen Sehnenscheidenentzündungen, Stimmbandüberlastungen, Stresssymptomen, Suchterkrankungen, Tinnitus und Versagensängsten.
„Die Krankheitsbilder sind hochgradig individuell und komplex und können deshalb nicht nur aus rein klinisch-wissenschaftlicher Perspektive betrachtet werden“, sagt Herzspezialist Professor Sebastian Kerber und plädiert für einen multidisziplinären Ansatz. Im künstlerischen Bereich sei die Arbeitsbelastung verschärft, sagt Cellistin Monika Gaggia: Das Umfeld stellt „emotional intensive und sehr spezielle Anforderungen“. Da gelte es nicht nur dem persönlichen Druck standzuhalten, sondern auch Privates und Berufliches in einen harmonischen Einklang zu bringen.
Zwei Tage im Monat sitzt Monika Gaggia als Ansprechpartnerin im Betriebsratsbüro des Schauspielhauses und wartet darauf, dass die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an die Tür klopfen. Sie ist da, um mit ihnen über Sorgen und Nöte, Wehwehchen und Schmerzen zu sprechen – streng vertraulich. Wenn sich aus einem Gespräch Handlungsbedarf ergibt, stellt die Lotsin über den Klinikumspartner Kontakt zu Experten her, zu Physio- und Psychotherapeuten oder Fachärzten.
Für alle Mitarbeiter vor und hinter der Kulisse
Dafür hat Monika Gaggia für die gesamte Spielzeit einen umfangreichen Betreuungsplan entwickelt. 300 Menschen arbeiten am Meininger Theater, mit 200 hat sie inzwischen gesprochen und dabei 30 Angestellte aus allen Abteilungen an Facheinrichtungen vermittelt. Die erste Stufe dieser Zusammenarbeit läuft bis Mitte 2018. Wie es danach weitergeht, werde nach der Auswertung der Fragebögen entschieden, die die Mitarbeiter des Hauses nach Ende der Orientierungsphase ausfüllen. Angedacht ist erst einmal eine Projektdauer von zwei bis vier Jahren.
Der Intendant und der Chefarzt verstehen das Projekt als ganzheitlich. Alle Mitarbeiter „vor und hinter der Kulisse“ sollen angesprochen werden. In der Projektbeschreibung sind die Ziele allgemein formuliert: Da geht es um „Prävention von berufsbedingten Erkrankungen in den einzelnen Berufsfeldern und Sensibilisierung für physische, psychische und psychosomatische Fehl- oder Überbelastungen. Schulung der Körperwahrnehmung, individuelles Körpertraining und Informationsveranstaltungen sind angedacht. Außerdem geht es darum, Erkrankungen interdisziplinär im Netzwerk von Arbeitsmedizinern, niedergelassenen Ärzten und den Spezialabteilungen des Rhön-Klinikums Bad Neustadt zu behandeln.
Und auch die Nachsorge, Rehabilitation und Wiedereingliederung ist im Blick – wann immer Erkrankungen entweder in ursächlichem Zusammenhang mit der Berufsausübung stehen oder sie die Berufsausübung beeinträchtigen. Das Ziel: Ausfälle zu vermeiden und für alle eine bessere Arbeitsplatzqualität zu schaffen.
Bewegte Jahre
Das Vier-Spartenhaus in der südthüringischen Provinz hat einen guten Ruf und eine bewegte Vergangenheit. Nach der Grenzöffnung 1989 strömten Besucher aus den fränkischen und hessischen Nachbarregionen ins „wiedergefundene“ Theater. Unter der Intendanz von Ulrich Burkhardt und der Opernregisseurin Christine Mielitz folgte ein außergewöhnlich erfolgreiches Jahrzehnt. Das Haus machte als „Wunder von Meiningen“ in den nationalen Feuilletons Schlagzeilen.
Der Versuch von Mielitz' Nachfolger Res Bosshart, aus dem Theater eine jugendorientierte Avantgardebühne zu machen, scheiterte am vehementen Widerstand des Stammpublikums. Die einst enorm hohen Abonnentenzahlen sanken. Erst nach 2005, als Ansgar Haag die künstlerische Leitung des Hauses übernommen hatte, beruhigten sich die Verhältnisse wieder. In der Spielzeit 2015/16 zählte das Theater knapp 160 000 Besucher. Das entspricht einer Auslastung von 81 Prozent. Damit ist Meiningen neben Weimar und Erfurt der bedeutendste Theaterort Thüringens.
Das alles sagt aber noch nichts aus über die innere Verfassung des Theaters. Je stärker die Forderung der Öffentlichkeit, unterhalten zu werden, und je größer der kultur- und finanzpolitische Erwartungsdruck nach Effizienz und höheren Quoten, umso schwieriger, aber auch wichtiger werde ein pflegliches Miteinander im Haus, sagen die Verantwortlichen. Dazu braucht es ein Betriebsklima, das Unzufriedenheit und gesundheitliche Probleme nicht befördert, sondern rechtzeitig angeht. Ob das Gesundheitsprojekt in diesem Zusammenhang Früchte trägt? Der Zuschauer wird es in der nächsten Spielzeit vielleicht spüren.
„Im künstlerischen Bereich werden enorme Anforderungen an Körper und Psyche gestellt.“
Prof. Dr. Sebastian Kerber, Chefarzt der Klinik für Kardiologie Campus Bad Neustadt