22 Jahre war Franziska Pörschmann alt, als sie das Schauspiel „Die Anhalterin“ im Jahr 1997 schrieb. Wer eine der beiden Aufführungen dieses Stücks am vergangenen Wochenende am Martin-Pollich-Gymnasium in der Inszenierung von „METTheater“ gesehen hatte, konnte sich gleich mehrfach wundern: über die Welt- und Menschenerfahrenheit der damals so jungen Autorin, über die gelungene Interpretation durch die Regie von Michael Graf und vor allem auch über die beiden Protagonisten dieses Einakter- und Zweipersonenstücks, Antonia Kritzer und Andreas Schubert.
Franziska Pörschmann hatte auf Einladung der Theaterleitung den Weg von München nach Mellrichstadt nicht gescheut und wohnte am 9. Januar der Uraufführung ihres dramatischen Frühwerks bei.
Generationenkonflikt
Grafs Regie-Idee war, den Generationenkonflikt im Stück möglichst scharf herauszuarbeiten. Besonders die Szene, in der sich die minderjährige Micha (Antonia Kritzer) dem älteren Manfred Knudsen (Andreas Schubert) anbietet, hätte man auch ganz anders unter Betonung der darin angelegten Erotik ausspielen können. Die Micha aber, die Antonia verkörperte, präsentierte sich dem Regiewillen entsprechend auf solch provozierend-bissige Weise, dass jedem normalen Mann die Lust auf Sex mit einem frühreifen Teenager vergeht.
Antonia Kritzer gab eine aggressive, höhnische, beleidigende Kratzbürste, die offenbar schon böse Erfahrungen gemacht hat, die, pubertierend und zugleich altklug, niemandem mehr traut, die sich von niemandem imponieren lässt, die aber auch mit sich selbst nicht im Reinen ist. Die fremdbestimmte Rolle als die Beste in der Schule und auch sonst wo im Leben, in die man sie drängen will, möchte sie um keinen Preis spielen. Ihren Plan, per Anhalter über Berlin nach Hamburg zu fahren, ihren abtrünnigen Vater aufzusuchen und ihm ihre Verachtung und Hassliebe ins Gesicht zu schreien, gibt sie nach dem Streit mit ihrem Chauffeur und Logisherrn Manfred Knudsen auf – dieser hatte sie zu Spielbeginn an der Autobahn als Anhalterin mitgenommen.
So, wie sie sich nach und nach selbst verrät, kommt auch Knudsen dazu, zu seiner Lebenslüge und Lebensenttäuschung zu stehen. Sein Problem bricht immer auf, wenn er sich zwei-, dreimal im Jahr betrinkt – dann wird ihm klar, mit welchen Menschen, in welcher Welt der Demütigung, der Selbstverleugnung, der Würdelosigkeit er leben muss. Das alles, weil er Karriere und Erfolg nachgejagt war, sein Ich unterordnete, wofür Micha nur Verachtung hat, ohne jedoch zu wissen, mit welchem besseren Sinn man das Leben füllen kann.
Andreas Schubert verkörpert Knudsen geradezu ideal. Er steht sinnbildlich für die Generation ihres Vaters, an dem sich Micha für dessen Versagen durch ihre bohrenden, kritischen Fragen, durch ihre Bissigkeit, durch ihre stachelspreizende Igelichkeit rächt und dessen Versuche zu einem höflich-freundlichen Gespräch sie konsequent unterläuft. Doch so, wie Micha ihn nicht versteht, versteht auch Manfred Knudsen das junge Mädchen nicht. Das alles bringen die beiden Schauspieler auf eine sehr betroffen machende Weise überzeugend über die Rampe.
Das Stück ist extrem handlungsarm. Nach der Ankunft der beiden in Knudsens Wohnung tut sich außer dem permanenten Wortgeplänkel rein äußerlich nichts mehr. Kaum, dass sich die Figuren auf der Bühne noch bewegen. Doch turbulente Handlung braucht das Stück nicht.
Mimik und Körpersprache
Die Gegensätzlichkeit der beiden Figuren, das immer tiefere Bewusstseinsebenen enthüllende Streitgespräch ist so spannungsgeladen, dass äußere Handlung gänzlich überflüssig wird. Mimik und Körpersprache der beiden Schauspieler passten in faszinierender Weise dazu und gaben Zeugnis vom schauspielerischen Talent von Kritzer und Schubert.
Zurück zur Handlung: Warum geht Micha überhaupt in die Wohnung mit? Ganz banal erklärt sie, weil sie eine Bleibe für die Nacht sucht. Bleibt die Frage, warum sie von ihrem Vorhaben, den Vater in Hamburg zu suchen, am Ende ablässt. Man könnte vermuten, dass das enthüllende Gespräch der beiden eine kathartische Wirkung gehabt hat, so dass Micha der seelische Druck genommen ist. Eine Lösung ist das gleichwohl nicht, weder für sie noch für ihn. Weder kann Knudsen seine verpfuschte Vergangenheit rückgängig machen, noch kann Micha etwas an der kaputten Ehe ihrer Eltern ändern, unter der sie seit ihrer Kindheit gelitten hat. So bleibt beim Zuschauer die tiefe Betroffenheit, dass die beiden Figuren, und mithin wir alle, die Opfer der Umstände, aber auch unserer eigenen frustrierenden Unfähigkeit zur sinnvollen Gestaltung unseres Lebens sind.
Dass die Aufführung so perfekt geklappt hat, ist damit zu erklären, dass alle Handelnden Theatererfahrung haben. Franziska Pörschmann, wenn auch jetzt Verlegerin, hat eine Theaterkarriere hinter sich. Andreas Schubert konnte sein schauspielerisches Talent als Mitglied des Schillertheaters in Bauerbach entwickeln, und die in vielfacher Hinsicht bemerkenswerte, äußerst vielseitige Gymnasiastin Antonia Kritzer hat schon bei Theateraufführungen an ihrer Schule, aber auch am Meininger Theater mitgewirkt und tragende Rollen gespielt.
Zusammen mit der gelungenen Bühnengestaltung hat METTheater eine rundum überzeugende Aufführung geboten, die sich von der textlichen, der theatralischen und schauspielerischen Qualität mit einer Profibühne messen kann. Schade, dass fürs Erste nur zwei Aufführungen angesetzt waren. Das Stück hat zweifellos viele Abende mehr verdient.