50 Jahre nach dem Mauerbau und fast 22 Jahre nach dem Mauerfall findet Ralf Luther, Landrat in Schmalkalden-Meiningen, deutliche Worte zum Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze. „Die DDR-Grenzpolizei wurde instruiert, dass Grenzdurchbrüche mit allen Mitteln zu verhindern sind. Jedem war bewusst, dass er dann von der Waffe Gebrauch machen muss. Alles andere wäre gelogen.“ Rückblickend auf den Mauerbau vor 50 Jahren und die Zeit danach sagt der Chef des südthüringischen Landkreises: „Man kann eigentlich nur dem lieben Gott danken, dass 1989 die Grenze fiel – und das noch ohne Blutvergießen.“
Ralf Luther war in den Jahren 1971 und 1972 am Grenzübergang in Eußenhausen als Grenzsoldat eingesetzt. Da hieß es auch Streife laufen am Grenzzaun. Rückblickend sagt er heute, dass oft ein mulmiges Gefühl dabei war, wenn er diesen Dienst tat, weil man nie wusste, ob der Kollege nicht Überlegungen anstellt, zu fliehen – und dann hätte man schießen müssen. „Wer sich heute hinstellt und sagt, ich hätte das garantiert nicht gemacht . . .“ – Luther zögert, ehe er weiterspricht, ohne den Satz zu vollenden. „Diese Antwort kann keiner geben, weil es einfach erlogen wäre.“
Der Grenzsoldat Luther, zu dieser Zeit bereits Hobbyfotograf, war angehalten, Dokumentationen vom Dienst und von Personalbewegung auf der „anderen Seite“ zu machen. Zöllner oder Beamte des Bundesgrenzschutzes hätten dann manchmal Scherze gemacht, ob sie lächeln oder böse schauen und wie sie sich positionieren sollen, damit es ein gutes Foto wird, so Luther. „Aber man hatte ja die strenge Anweisung, darauf nicht antworten zu dürfen.“ Der Dienst habende Offizier habe immer gesagt: „Sie wissen, Sie dürfen hier keine falsche Bewegung, keinen falschen Schritt machen. Ich muss dann von der Schusswaffe Gebrauch machen.“
Willi Dros war 23 Jahre lang Grenzpolizist in Fladungen, er kennt den Schießbefehl, der am 14. September 1961 erlassen wurde, und zwar unter dem Aktenzeichen 000464 (39/61). Es war der „Befehl über die Gewährleistung der Sicherheit an der Westgrenze der DDR“. Dort heißt es: „Auf Deserteure ist das Feuer sofort zu eröffnen, das heißt ohne Anruf und Warnschuss. Auf Flüchtlinge, die sich zur Festnahme durch Flucht in die Bundesrepublik zu entziehen versuchen, dürfen nach einem Warnschuss gezielte Schüsse abgegeben werden. Befindet sich eine flüchtende Person bereits auf bundesdeutschem Gebiet und sind keine westdeutschen Sicherheitsorgane in der Nähe, so ist die Person nach Möglichkeit anzuschießen und sofort zu bergen. Befindet sich ein Flüchtling kurz vor der Grenze zur Bundesrepublik und es werden westdeutsche Sicherheitsorgane festgestellt, ist die Person zu erschießen und anschließend sofort zu bergen, damit eine westdeutsche Propaganda nicht möglich ist.“ Über viele Jahre hinweg wurde dieser Schießbefehl geleugnet und er ist heute, so weiß Willi Dros, auch gar nicht mehr so gerne gehört.
Dieser Befehl hat in der DDR viele Flüchtlinge das Leben gekostet. Ralf Luther hat der Grenzdienst sehr stark geprägt, auch was seine politische Einstellung betrifft. Dabei hat sein Vater, selbst SED-Mitglied, verhindert, dass auch sein Sohn Mitglied der Partei wurde. Mit seiner Hilfe habe er immer wieder Ausreden gefunden. „Diese Zeit hat mich so stark geprägt, aber in eine andere Richtung, sonst wäre ich niemals in der Lage gewesen, das Amt des Landrats auszuführen.“ Schon 1988 wurde er Mitglied der CDU, um nach außen zu dokumentieren, dass er den Arbeiter- und Bauernstaat so nicht akzeptiert. Im Frühjahr 1989 hat Luther nach eigenen Angaben auch schon die führende Rolle der SED in Frage gestellt und sich bis an die Grenze des Erlaubten in dieser Wendezeit mit den Kollegen der CDU ausgetauscht und eingebracht.
Für den Landrat ist es wichtig, der heutigen Jugend bewusst zu machen, was die DDR für ein Staat war. „Kinder und Jugendliche sollten Dokumentationen darüber sehen, um zu begreifen, wie unmenschlich dieses System gewesen ist.“ Deshalb liegt ihm auch der Skulpturenpark auf der Schanz am Herzen. „Er ist eine Begegnungsstätte und verweist auf geschichtliche Ereignisse, zeigt aber auch ein Stück weit auf, wie man Zukunft in Deutschland und in Europa gestalten soll.“
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