Was hat der Mehlwurm mit dem Meininger Theater zu tun? Und was haben Wurm und Theater mit 30-Jahre-Mauerfall gemein? Mehlwürmer waren sozusagen die Labor-Helden meiner realsatirischen Betrachtung über die Monate nach dem Fall der Mauer, die Anfang 1990 unter anderem in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu lesen war.
Das Meininger Theater wurde nach der ersten euphorischen Phase nach der Grenzöffnung für mich das Labor, in dem für ein paar wunderbar illusionäre Jahre eine besondere Art der Wiedervereinigung erprobt wurde. Der Umgang von Theaterfreunden Ost und West weckte in mir die Hoffnung, dass die Lebensleistungen der gelernten DDR-Bürger nicht so an den Rand gedrängt wurden wie in vielen anderen Bereichen. Bei allem Respekt vor dem Mammutprojekt der Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft mit einer am Boden liegenden Wirtschaft, einer horrenden Staatsverschuldung und einem totalitären, sich selbst diskreditierenden politischen System: Der Prozess der Vereinigung war ein Prozess der Übernahme, der die Lebensleistungen und Fähigkeiten der Ostdeutschen weit weniger anerkannte als es vonnöten gewesen wäre, um die folgenden Spaltungen in der Gesellschaft zu mindern.
Ein leerer Krug mit dem Etikett Demokratie
Ein vom Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk zitierter vielbeachteter Essay der DDR-Oppositionellen und späteren Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde Marianne Birthler bringt es bereits 1992 auf den Punkt: „'Die Demokratie ist für viele in Ostdeutschland so etwas wie ein leerer Krug mit dem Etikett Demokratie. Womit dieser Begriff gefüllt wird, das entscheidet sich in diesen Tagen, Wochen und Monaten, in denen Stimmungslage und Erfahrungen düster sind. Ich halte das deshalb für verhängnisvoll, weil derjenige, der schlechte Ersterfahrungen mit der Demokratie gemacht hat, kaum bereit sein dürfte, sich aktiv für den Schutz dieser Demokratie einzusetzen. Mit den Folgen dieser Situation werden wir es, so ist zu fürchten, noch zu tun bekommen.'“
Warum ich mich damals der satirischen Form der Mehlwurmbetrachtung widmete, hatte viel damit zu tun, dass mir etwas bange wurde bei der Frage, wie denn Gesellschaften zusammenwachsen konnten, die der Nationalgeschichte nach zwar zusammengehörten, aber lebenslang höchst unterschiedlich sozialisiert wurden. Im Spätherbst 1989 liefen mir der zwölfjährige Benedikt aus Mellrichstadt und seine Mehlwurmzucht über den Weg. So entstand die Reportage „Der Kannibalismus hält sich in Grenzen. Die Wiedervereinigung des Mehlwurmvolkes – oder: Soziogramm einer Randgruppe in schwerer Zeit“. Auszüge davon lesen Sie im Folgenden:
Soziogramm einer Randgruppe in schwerer Zeit
„Tagtäglich sind wir Deutsche in Ost und West einer Flut von Informationen über uns selbst ausgesetzt – wir, die wir wieder einmal so unverhofft ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit geraten sind, mit unserem kollektiven Streben nach Zusammenwachsen dessen, was zusammengehören soll.
Nicht wenige Medienkonsumenten leiden schon an einem Gefühl der Übersättigung im Bereich der Großhirnrinde, andere fragen sich hingegen, ob das etwa alles gewesen sei, was in diesen langgezogenen historischen Stunden zu sagen wäre. Ist der deutsche Michel wirklich das Maß aller Dinge im Prozess der Auflösung starrer Machtstrukturen auf dem kleinen Planeten in der Unendlichkeit des Kosmos?
Doch lassen wir unsere Gedanken nicht ins Unermessliche schweifen, sondern beschäftigen uns mit jenen gesellschaftlichen Randgruppen im Lande, über deren Schicksal im Zuge der Vereinigung noch niemand öffentlich nachgedacht hat. Gibt es zum Beispiel eine Studie über Veränderungen im Sozialverhalten des Wildkaninchens West gegenüber seinen Brüdern und Schwestern im Osten, nachdem Mauer und Stacheldraht gefallen sind? Kurz gefragt: Wie reagiert die Tierwelt auf die neue politische Lage in Mitteleuropa?
Zwölfjähriger forscht per C-64-Computer
Was uns Erwachsenen angesichts der täglichen Nabelschau des germanischen Individuums als nichtig erscheinen mag, hat sich der zwölfjährige Benedikt aus dem unterfränkischen Grenzstädtchen Mellrichstadt zur Aufgabe seiner Forschung gemacht. Da sich sein Kinderzimmer für eine Feldstudie der Lebensweise der Waldkaninchen nur bedingt eignet, konzentriert er sich auf das Vereinigungsgebaren des Mehlwurms – der Larve des Mehlkäfers (Tenebrio molitor) aus der 20.000 Arten umfassenden Familie der Schwarzkäfer (Tenebrionidae). Mit erstaunlichen und für jedermann ersichtlichen Ergebnissen, die der Jungforscher in einer Langzeitstudie mittels C-64-Computer wissenschaftlich auswerten will.

Die Vorgeschichte des Projekts ist in einfachen Worten erzählt. Benedikt – familiär vorbelastet: Vater ist Biologielehrer – nennt seit dem siebten Lebensjahr eine Mehlwurmzucht sein eigen, aus der er Schildkröten und Mäuse der Schulkameraden mit schmackhaften Nahrungsbeilagen versorgte. Er hätte sich damit wahrscheinlich auf längere Sicht begnügt, wäre da nicht in Folge der politischen Umwälzungen im anderen deutschen Staat ein Ereignis eingetreten, das das Züchterdasein Benedikts nachhaltig beeinflusste. So ist es halt im Leben von Abenteurern, Forschern und Wissenschaftlern: Die großen Entdeckungen resultieren nicht selten aus dem Zusammentreffen von Zufällen.
Bei einem Bummel durch die Erfurter Innenstadt fiel dem Buben der Aushang im Schaufenster einer Zoohandlung auf: „Mehlwürmer als Fischköder billig abzugeben!“ 100 Gramm zu 4,50 Mark (Ost) – die Idee war geboren: „Ich werde die Mehlwürmer wiedervereinigen!“
Salat führt zu geruchsintensiven Durchfall
Vernachlässigen wir die Frage, ob dieselben jemals einer großdeutschen Gattung in den Grenzen von 1937 entstammten, vernachlässigen wir ferner die Strategie, mit der es Benedikt gelang, 800 Würmer ohne Zoll- und Passformalitäten über die Grenze zu schaffen. Überspringen wir ein paar Tage und werfen einen Blick auf die Versuchsanordung im Bücherregal des Nachwuchszoologen, platziert zwischen dem Stapel Micky-Maus-Heften und dem Deutsch-Lehrbuch für die zweite Jahrgangsstufe des Gymnasiums. Sie besteht aus drei schlichten Plastikbehältern (Marke Eismann), von unten nach oben gefüllt mit einer Schicht Mehl, zerrupftem Klopapier, Trockenhefe, Haferflocken, nochmals Mehl, Zwieback, Knäckebrot und Stofffetzen. Anfänglich zuunterst ein Salatblatt, das sich allerdings nicht bewährte, weil sein Genuss bei allen Teilvölkern zu geruchsintensivem Durchfall führte.
Am 23. Januar 1990 – für Benedikt ein denkwürdiges Datum – wurde im mittleren der provisorischen Terrarien die Vereinigung von 25 Gramm Würmern Ost mit 25 Gramm Würmern West vollzogen. In den beiden anderen Behältnissen gingen derweil, unbeeinflusst von den sozialen Ereignissen jenseits der Wände, die Reinkulturen – Ausgangspopulation je 50 Gramm – ihren gewohnten Alltagsgeschäften nach.
Was sich schon am Tag der Einheit abzeichnete, ist inzwischen zur Gewissheit geworden: Es gibt eklatante Unterschiede im gesamten Erscheinungs- und Verhaltensspektrum der getrennt lebenden Stämme und erstaunliche Entwicklungen im vereinten Mehlwurmvolk.
Wurm West schlank, Wurm Ost vollschlank
An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass selbstverständlich jedwede Übertragung der beobachteten Zustände im Leben des Tenebrio molitor auf das Verhalten des Homo sapiens germanicus aus wissenschaftlicher Sicht unstatthaft ist. Ähnlichkeiten müssen als rein zufällig eingestuft werden, solange die Beziehungen zwischen Mensch und Wurm nicht hinreichend erforscht sind.
Die wichtigsten vorläufigen Untersuchungsergebnisse des Mehlwurmexperten Benedikt: Mehlwurm Ost, West und Ost-West unterscheiden sich farblich zwar nur in Nuancen, mehr jedoch in der Körperfülle: schlank die Würmer aus dem Westen, vollschlank die aus dem Osten. Das schlug sich schon zu Beginn der Untersuchung in auffälligen Bewegungs- und Verhaltensdifferenzen nieder. Während sich die Würmer West in hektischem Gewurle durch Knäckebrot und Zwieback fraßen und in Rekordzeit über das Puppen- zum Käferstadium gelangten, verharrten die Würmer Ost in Lethargie, die von verschiedenen Beobachtern – je nach ideologischem Standort – als Ausdruck einer tiefen Depression, als Zeichen innerer Entrücktheit und als zukunftsorientierte Sicherung der als knapp eingestuften Nahrungsressourcen interpretiert wurde. Dafür, dass letzteres zutrifft, spricht die Tatsache des unter den Westwürmern verbreiteten Kannibalismus gegenüber den verstorbenen Müttern und Vätern. Gnadenlos verspeisten die Nachwachsenden die Leichname der Käfer, ja machten nicht einmal vor den Puppen halt.
Zehn Wochen nach Versuchsbeginn befindet sich die Population Ost größtenteils noch im Stadium des Wurms, nur vereinzelte werden Käfer gesichtet. Derweil tummeln sich an der Oberfläche des Westterrariums die Käfer. Die Würmer lauern im Untergrund.
Gelangen beide Mentalitäten in eine höhere Stufe des Bewusstseins?
Was aber geschieht im vereinigten Volk? Gibt es Hoffnung, dass beide Mentalitäten zu einer höheren Stufe des wurmischen (Bewusst-)Seins gelangen? Die Frage lässt sich noch nicht beantworten. Augenblicklich zeigen die Kinder und Kindeskinder der friedlichen Vereinigung eine offenkundige Anpassung an den Lebensstil des Westens. Vom Klopapier bis zum Knäckebrot wird alles mit einer Gründlichkeit durchlöchert, die die Arbeitsmoral, nicht aber das Arbeitstempo der westlichen Brüder und Schwestern in den Schatten stellt. Trotzdem sind nur vereinzelt Fälle von Kannibalismus aufgetreten. Gebärdet sich die Population West wie ein Volk ohne Raum, das seine Aggressionen im Gefühl der Unüberwindbarkeit der äußeren Grenzen nach innen richtet, kennzeichnet das Mischvolk eine bewundernswerte Selbstdisziplin, mag sein, in der Annahme, für jederwurm stehe genügend Nahrung zur Verfügung. Zudem erscheint das Verhältnis von Wurm, Puppe und Käfer ausgeglichener als in den Vergleichsgruppen.
Ob sich diese Tendenzen stabilisieren, sei dahingestellt. Benedikt wird jedenfalls den Alltag der Lebewesen präziser und kontinuierlicher beobachten und auswerten als bisher. Dazu will er einen wöchentlichen Wurmbericht verfassen und in durchsichtigen Terrarien besonders die Wachstumsgeschwindigkeit kleiner Verbände unter die Lupe nehmen.
Bleibt zum Schluss zu betonen, dass es dem Jungforscher nicht um eine Versuchsreihe zum Ausloten von Formen gesamtdeutscher Identität geht, sondern um die Integration des germanischen Wurms in die europäische Völkerfamilie – kurz gesagt: um den Eurowurm. Auf dem Weg dorthin fehlt Benedikt nur noch das Kleingeld, das er zur Finanzierung der nötigen Auslandsreisen braucht.“
Von den Resonanzen auf diese realsatirische Betrachtung und davon, was der wiedervereinigte Mehlwurm mit dem Meininger Theater zu tun hatte, geht es im zweiten Teil meiner Erinnerungen. Der folgt in einer der nächsten Ausgaben.