Je weiter Erinnerungen zurückliegen, umso präsenter werden sie im Alter. Vergangene Bilder steigen aus dem Gedächtnis und sind so nah, hervorgerufen über einen Duft oder eine Farbe. Manche Landschaften oder Dinge aus der Vergangenheit gibt es nur noch im Museum zu besichtigen. Aber wie anstrengend kann im Alter die Fahrt in ein Museum sein! Da ist es hilfreich, wenn das Museum zu einem kommt. Museumspädagogin Birgit Höhl vom Georg-Schäfer-Museum reist mit einem großen Koffer in die Seniorenheime der Region, um die Kunst zu Menschen mit und ohne Gedächtniseinschränkungen zu bringen.
Die Demenzerkrankungen, die sich allgemein als das "Nachlassen der Verstandeskraft" bezeichnen lassen, haben unterschiedliche Ursprünge, jedoch ist die Alzheimer-Demenz mit rund 60 Prozent die am weitesten verbreitete. Sie sind mehr als die Altersvergesslichkeit, die viele von uns kennenlernen, wenn Namen, Personen oder Gegenstände aus dem Gedächtnis verschwinden.
Erstaunlich lange jedoch bleiben bei den Betroffenen die emotionalen Fähigkeiten bestehen. Das genaue Gespür für Befindlichkeiten der Menschen schärft sich geradezu manchmal noch, so wie sich bei blinden Menschen der Hörsinn verändert. Das Erfassen von emotionalen Situationen kann für die Betroffenen zur Lebensstrategie werden.
Kunstführung im Seniorenzentrum in Münnerstadt

Höhl hat sich mit diesen Zusammenhängen auseinandergesetzt. Sie ist diesmal nach Münnerstadt in das Seniorenzentrum St. Elisabeth gefahren, mit einem Diaprojektor im Gepäck, der die Gemälde des Museums groß an die Wand werfen kann. Für die Senioren und Seniorinnen ist der Weg aus den Stockwerken, in denen sie wohnen, hinunter in den großen hellen Saal im Erdgeschoss wohl ähnlich aufwendig, wie für Jüngere eine Fahrt mit dem Auto ins Museum.
Da ist es wichtig, dass die richtige Brille eingepackt wird, dass das Hörgerät richtig sitzt, dass der Abstand zur Leinwand nicht zu groß ist – Christina Wolf, Auszubildende in der Pflege, Gaby Eck, Betreuungskraft, sowie Ingrid Nöth, Stationsleiterin des Seniorenheims, haben alle Hände voll zu tun, bis alle ihre Schützlinge im Raum Platz genommen haben.

Wie ist das wohl, mit einer Demenz zu leben? Was macht das Gehirn, was macht es nicht mehr? Und wie ist es möglich, dann doch einen entspannten und möglichst angenehmen Weg hinaus aus dem Leben zu finden? Denn das ist ja eine große Frage in den letzten Lebensjahren.
Manchmal kann es auch hilfreich sein, Dinge zu vergessen. Ereignisse, die schmerzhaft sind beispielsweise. Es gibt dazu auch Studien, Berichte, dass zum Beispiel Kriegserfahrungen vergessen werden können, dass beim Zurückentwickeln hin zur Kindheitsebene hinter manch strengem Erwachsenen plötzlich wieder ein fröhlicheres Kind auftaucht …
Die größere Präsenz mancher Dementen auf der Gefühlsebene bietet auch Chancen. Sie reagieren manchmal auch intensiver auf Anregungen, die ihnen geboten werden. Genau damit arbeitet Höhl bei ihrem Besuch in den Seniorenheimen.
Riechen und Erinnern
Sie gibt gleich zu Beginn ein kleines Kugellager in die Runde, als sie das Museum vorstellt. Das kleine Kugellager vermittelt die geniale Erfindung, denn in den anwesenden Rollstühlen ist genau ein solches eingebaut und ermöglicht damit eine größere Bewegungsfreiheit fürs wackligere Alter.
Dem Problem der anfänglichen Fremdheit in der Runde begegnet Höhl, indem sie sich in der Gruppe bewegt, ihre mitgebrachten Gegenstände den Beteiligten in die Hände gibt, sie riechen lässt an unterschiedlichen Duftölen. Es ist beeindruckend zu sehen, wie sich das Erkennen auf den Gesichtern abzeichnet, das Erinnern an angenehme Momente des Lebens.

Denn Rosen zum Beispiel, auch wenn sie nur aus Stoff sind, und dazu der passende Duft, verbinden die Menschen fast immer mit solchen Momenten.
In den Gesichtern zeichnet sich Verzauberung ab. Und auch das passende Bild hat Höhl mitgebracht, ein junges Mädchen in Spitzenkleidern, mit Rosen auf dem Schoß, liest auf einem Papier, die Wangen sanft gerötet, das wird vielleicht ein Liebesbrief sein?
Bilder als Anknüpfungspunkte an die eigene Geschichte
Mit großem Einfühlungsvermögen geht Höhl auf die unterschiedlichen Stimmungen der Gemälde aus dem 19. Jahrhundert ein, die doch viel von den Lebensumständen enthalten, die die Anwesenden in ihrer Kindheit und Jugend selbst erlebt haben. Da gibt es den Bauern, der mit den Ochsen das Feld pflügt, den Jäger, der irritiert über die Störung aus dem Bild herauszuschauen scheint, die spielenden Kinder beim Ringelreihen … lauter Anknüpfungspunkte an die eigene Geschichte.
Die kleinen Details, die auf den ersten Blick nicht leicht zu entdecken sind, holt Höhl in die Sichtbarkeit, Vögel, Hunde, Blüten, Farben, der Frühling, der bald kommt, der Herbst, der schon da ist – die Vorfreude, die Wehmut, alles hat seinen Platz.

Sie geht auch ein auf den Entstehungsprozess der Bilder. So haben zum Beispiel zwei Künstler das Gemälde "Der Bauernjäger" gemalt, im Jahr 1894, Wilhelm Leibl und Johann Sperl. Wie das wohl geht, so gemeinsam ein Bild zu malen? Aber Namen sind nicht mehr wichtig in dieser Gegenwart, eine Farbpalette, die Höhl in die Runde gibt zum Befühlen, bietet da schon mehr Berührungspunkte. Auch zum Selbermalen sind die Anwesenden aufgefordert, jedoch ergreift nur eine der Damen die bunten Stifte. Sie malt kräftig mit gleich sechs Stiften in der Hand und mit Freude im Gesicht.
Stationsleiterin Nöth verweist am Ende auf die kleine Galerie, die an der Rückwand des großen Saals aufgehängt ist. Ein ehemaliger Bewohner hat die kleinen Kunstwerke angefertigt und dem Hause vermacht. So bleibt über die Kunst das Leben länger erhalten, präsenter und gegenwärtiger als gedacht.
Information: Die Besuche mit dem Museumskoffer oder auch Führungen "Kunst erleben mit Demenz" direkt im Museum Georg Schäfer können gebucht werden unter Tel. (09721) 514830.