Der 27. Januar ist seit 1996 in Deutschland bundesweit ein gesetzlich verankerter Gedenktag. Es ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Der Verein Kulturforum und die Stadt Gerolzhofen veranstalteten am Sonntag eine öffentliche Gedenkveranstaltung. Dazu war eine große Zahl interessierter Bürgerinnen und Bürger gekommen.
Seit 100 Jahren können Frauen wählen und gewählt werden. Die Jubiläumskampagne des Bundesfamilienministeriums ruft auf, Frauenschicksale mit eigenen Aktionen sichtbar zu machen. Aus diesem Grunde wählte Stadtführerin Evamaria Bräuer für ihren Stadtrundgang die Biografien jüdischer Gerolzhöferinnen aus. In Gerolzhofen existierte bis 1933 eine aktive jüdische Gemeinde. Gegenseitiges Achten und Respektieren von Bräuchen und Gepflogenheiten waren selbstverständlich. Ebenso war die Mitgliedschaft jüdischer Bürger im Stadtrat, Gesang- und Schützenverein, im Fußball- oder Steigerwaldklub gelebte Normalität.
Der Treffpunkt war am ehemaligen Kino in der Bahnhofstraße 16. Hier lebte Jenny Lichtenauer, geboren am 5. September 1893 in Westheim bei Hammelburg. Durch Heirat mit dem Landwirt und Viehhändler Rafael Lichtenauer kam die 27-jährige Jenny nach Gerolzhofen. Ein Foto zeigt eine schlichte Frau mit mittelblondem aufgestecktem Haar. Zuhause sprach man fränkisch, Tradition und Kaschruth (jüdische Speisegesetze) wurden gepflegt, der Besuch der Synagoge war selbstverständlich. 1933 änderte sich das. Durch Berufsverbote wurden wirtschaftliche Existenzen zerstört, Kindern der Schulbesuch untersagt. Die Versorgungslage erschwerte sich erheblich ab 1939. Besonders diskriminierend waren eingeschränkten Möglichkeiten. Nur der Kolonialwarenladen der Bäckerei Weickert bediente jüdische Kundschaft. Glücklicherweise halfen die christlichen Nachbarn der Schulersmühle nebenan mit dem nötigsten aus - alles aber heimlich bei Nacht und Nebel. Im Alter von 49 Jahren wurde Jenny Lichtenauer am 22. April 1942 erst nach Würzburg, drei Tage später von dort mit ihren Familienangehörigen nach Polen deportiert und im Raum Lublin ermordet.
In der Großfamilie lebte auch Janette Lichtenauer, Rafaels behinderte Schwester. In den Melderegistern ist zu lesen: von Gerolzhofen nach Würzburg verzogen ins Altersheim mit ihrer 87-jährige Mutter Sara und der ledigen, blinden 83-jährigen Tante Fanny. Beide starben dort 1940 beziehungsweise 1941. Sie konnten noch auf den israelitischen Friedhöfen in Gerolzhofen und Würzburg beerdigt werden. Als Nummer 372 stand Janette Lichtenauer auf der Todesliste der Gestapo für einen Transport über Nürnberg nach Riga am 29. November 1941. Sie kam nie wieder zurück. Heute erinnert ein Stolperstein vor dem Anwesen an sie.
Ein anderes Schicksal: Selma Lichtenauer, die Witwe des 1931 verstorbenen Hopfenhändlers Louis Lichtenauer, ging nach dem Tod des Großvaters, der seitdem für seine Schwiegertochter und die beiden Enkel gesorgt hatte, 1937 mit ihren Söhnen Walter und Herbert in ihren Heimatort Buttenhausen/Schwäbische Alb zurück. Sie kümmerte sich um ihre betagte Mutter. Von dort wurde auch sie 1941 nach Riga deportiert und kehrte nicht mehr zurück. In einem letzten Brief an ihren Bruder schrieb sie am 18. November 1941: "Es wird wohl der letzte Brief aus der lieben alten Heimat sein, denn wir müssen fort, fort ins Ungewisse. Vielleicht können wir an Euch schreiben, dass Ihr uns mal was schickt. Die liebe Mutter nehme ich mit, sonst finde ich keine Ruhe. Sie weiß noch nichts davon. (...) Es teilen so viele das gleiche Los. So überlassen wir es dem lieben Gott. Grüße meine lieben Kinder, 1000 Küsse, Eure tiefbetrübte Selma."
Mit unserem heutigen Wissen um die verbrecherischen Pläne der Nazis bekommt das Schicksal von Kathi Langstädter eine besonders tragische Variante: Im Sommer 1939 besuchte sie ihren nach Palästina emigrierten Sohn Bruno und dessen junge Familie. Sie besaß wohl nur ein befristetes Besuchsvisum für das damalige britische Mandatsgebiet. Illegal dort zu bleiben, das hätte sicherlich ihr Leben retten können. Sie entschied sich aber zurückzukehren, auch um ihrer kranken Schwester und nach deren Tod ihrem Schwager beizustehen. Im April 1942 wurde sie als Nummer 460 im Alter von 62 Jahren von Gerolzhofen über Würzburg nach Polen deportiert. Auch sie kam nicht zurück.