Plötzlich vibriert der Boden unter der Nähmaschine von Marianne Franz. Dann geht alles ganz schnell. Die talseitige Längswand der Burg bricht in sich zusammen. Das junge Mädchen stürzt in die Tiefe. Unter ihr verkeilen sich Nähmaschinen. In einem Hohlraum bleibt die 19-Jährige stecken. „Das war meine Rettung“, sagt Marianne Franz heute, 46 Jahre nach dem tragischen Einsturz des Ostflügels der Burg Brattenstein in Röttingen.
Es ist der 5. November 1971, kurz nach 13 Uhr. Ein „schöner Novembertag“, erinnert sich Agnes Eichinger. Auch sie gehört zu den 46 Beschäftigten einer Miltenberger Kleiderfabrik, die in der Etage unter dem Dachgeschoss des Osttraktes arbeiten. „Auf einmal war es hell. Und kurz danach ging es wie ein Fahrstuhl nach unten“, erinnert sich die damals 29-Jährige. Zwei Stockwerke, etwa zwölf Meter, stürzt sie in die Tiefe.
Vier Frauen ließen beim Einsturz der Burg ihr Leben
Christa Wutzke (27), Mutter eines fünfjährigen Sohnes, Ida Ulsamer (56) aus Aufstetten, Hedwig Biebelmann (37) und Helga Hümmert (26) aus Röttingen finden ihren Tod unter den Trümmern.
Vier Stunden ist Marianne Franz zwischen den Nähmaschinen eingeklemmt. Sie ruft um Hilfe. Immer lauter werden ihre Schreie. „Ich habe solange gebrüllt bis alle da waren.“ In dieser Zeit gehen ihr die furchtbarsten Gedanken durch den Kopf. „Wer kommt wohl zu meiner Beerdigung“, denkt sie während sie in den Trümmern der eingestürzten Burg auf Hilfe wartet.
Mit der Seilwinde rausgezogen
Feuerwehrleute schweißen später die Nähmaschinengestelle auseinander, um die junge Frau mit einer Seilwinde zu befreien. Dann legt ihr Notarzt Peter Sefrin eine Infusion an. Marianne Franz erinnert sich an jedes Detail. Tränen stehen ihr in den Augen, wenn sie sich an die tragischen Geschehnisse erinnert. Für einen Moment hält sie inne, denkt an ihre Kolleginnen, die es nicht geschafft haben. Junge Frauen, die am Anfang ihres Lebens standen. Erst einen Tag später, als sie im Krankenhaus liegt, erfährt sie vom Tod der Frauen.
Agnes Eichinger glaubt erst, sie sei ganz von den Trümmern verschüttet. Sie bekommt keine Luft mehr. Nach ein paar Minuten merkt sie, dass es „nur“ dicke Staubwolken sind. „Auf einmal wurde es wieder hell. Da wusste ich, ich lebe noch.“ Dann kommen die Ordensschwestern aus dem Kindergarten nebenan und helfen ihr aufzustehen.
Zeit für einen Erinnerungsort
Es ist der 6. Juni 2018. Der Osttrakt der Burg Brattenstein ist wieder aufgebaut. Nicht mehr so hoch wie vorher, aber dafür auffallend anders. 15 Frauen, die den Burgeinsturz von damals überlebt haben und Angehörige sind vor die wieder errichtete Burgmauer gekommen, um der Opfer zu gedenken. Darunter auch Marianne Franz, Agnes Eichinger und Josefine Wagenfahl. Sie konnte als letzte der Näherinnen die Burg noch verlassen. „Es wurde auf einmal schlaghell. Ich dachte, der Blitz hätte eingeschlagen“, erinnert sie sich an das Unglück.
„Es wird Zeit, dass wir einen Erinnerungsort bekommen“, sagt Bürgermeister Martin Umscheid. Dann enthüllt er zusammen mit den Pfarrern Gerhard Hanft und Michael Fragner eine Gedenktafel. „Das Unglück macht auf einmal alles was war anders“, sagt Michael Fragner. Der Blick der überlebenden Frauen ist gedrückt. Als Maria Voigt auf ihrer Violine eine ruhige Meditation spielt, kommen ihnen die Tränen.
Starke Erschütterungen brachten die Burg zum Einsturz
„Es ist gut, dass es jetzt einen Ort der Erinnerung gibt“, sagt Marianne Franz. „Es ist aber auch sehr schwer. Ich war damals dabei, habe alles mitgemacht und werde jedes Mal wenn ich hier vorbei gehe wieder an das Unglück erinnert“, sagt die 65-Jährige. „Die Gedenktafel ist sehr wichtig“, sagt Agnes Eichinger. „Es tut gut, dass an die Verletzten und Toten erinnert wird.“ Noch heute hat die 76-Jähre gesundheitliche Probleme, vor allem psychische. „Wenn ich in ein älteres Gebäude gehe und alles vibriert, ist es aus.“
Auslöser für das Unglück waren Bauarbeiten an der Burg. Den Erschütterungen durch die Schürfgeräte hielten die 600 Jahre alten Mauern nicht stand. Eine Garage für Fahrzeuge des Roten Kreuzes sollte gebaut werden.
Ein hölzernes Provisorium
Bis in die 90er-Jahre Jahre klaffte ein Loch in der Burg. Dann wurde es durch ein hölzernes Provisorium geschlossen. Hier befanden sich überdachte Zuschauerränge für das Publikum der Röttinger Festspiele. Weil aber der Burghang nie gesichert wurde und sich immer mehr bewegte, fürchteten Statiker um die Sicherheit der Behelfslösung.
Nach und nach entstanden Pläne für einen Neubau, der schließlich mehr ist als eine überdachte Galerie für die Festspielbesucher. Ein Stadtbalkon mit Terrassenbereich ist für 2,2 Millionen Euro entstanden. Leisten können sich das die Röttinger, weil sie dafür 1,2 Millionen Euro aus der Städtebauförderung bekommen und 157 000 Euro von der Landesstiftung. Dennoch braucht es dazu auch einen „mutigen Stadtrat“, sagt der Bürgermeister. Seit 2001 bekommt Röttingen Geld aus der Städtebauförderung. 8,5 Millionen Euro sind es bisher.
Materialien des alten Gebäudes wurden verbaut
Was den neuen, modernen Ostflügel der Burg – eine Konstruktion aus Stein, Holz und Stahl – zu einem beinahe historischen Bauwerk macht, sind viele Materialien des alten eingestürzten Gebäudes, die wieder verwendet werden konnten. Bauarbeiter hatten diese im Aushub gefunden.
Nach dem Konzert zur Eröffnung der Frankenfestspiele gehen viele an der Gedenktafel vorüber. Nicht achtlos. Die meisten halten einen kurzen Augenblick inne, verneigen sich still und gedenken der vier toten Frauen. Röttingen hat jetzt einen Ort der Erinnerung an das schreckliche Unglück am 5. November 1971.