Weil sich gesellschaftlich etwas ändern soll, hat sich eine an Magersucht erkrankte Studentin aus Unterfranken an diese Redaktion gewandt. Zu sehr leide sie unter abwertenden Blicken und unangebrachten Kommentaren fremder Menschen, die nichts über sie und den Hintergrund der Erkrankung wüssten, sich aber an ihrem dünnen Körper stören. Die junge Frau lebt seit 13 Jahren mit der Krankheit, hat einige Klinikaufenthalte hinter sich und kümmert sich aktiv um professionelle Hilfe. Von Außenstehenden wünsche sie sich einfach mehr Diskretion, sagt sie.
Diplom-Sozialpädagogin Linda Lauer von der Psychosozialen Beratungsstelle der Caritas im Landkreis Miltenberg erklärt, was hilfreich für Betroffene ist - und was nicht: "Nahestehende Personen müssen reagieren. Sie sollten fachliche Hilfe suchen. Kommentare Außenstehender sind ein Übergriff."
"Die hat zu viel Heidi Klum geschaut"- Vorurteile gegenüber Magersüchtigen
"Menschen bleiben stehen, schauen mich an, starren mich an oder fangen an zu tuscheln", berichtet die Betroffene. Fremde würden ungefragt ihr Aussehen kommentieren mit Sprüchen wie "Die hat zu viel Heidi Klum geschaut", "Schön ist das nicht mehr", "Hungerhaken", "Ist die abgemagert", "Wie kann man nur so rumlaufen" oder "Die steht ja kurz vor dem Hungertod". Die Kraft, darauf zu reagieren, habe sie nach all den Jahren nicht mehr, sagt die Studentin.
Im Alltag erfahre sie großes gesellschaftliches Unverständnis und Verurteilungen. Viele Menschen wüssten nicht, dass Magersucht eine psychische Krankheit ist und mehr dahintersteckt, als der Wunsch, dünn zu sein. Ähnliches berichtet Katja Hippe, seit vielen Jahren selbst Betroffene einer Essstörung und Leiterin einer Selbsthilfegruppe in Marktheidenfeld (Lkr. Main-Spessart): "Viele kommen in die Gruppe, weil sie Verständnis suchen. Fremde sehen meist nur einen dünnen Körper."
Magersucht ist mehr als der Wunsch, dünn zu sein
Zu Beginn ihrer Krankheit habe sie sich noch oft öffentlich gegen Kommentare und Vorurteile gewährt, sich gerechtfertigt, dass Magersucht nicht immer eine "Modekrankheit" ist und dass man nicht immer Models nacheifert, sagt die Studentin. Sie möchte Außenstehenden klar machen, dass tiefere Ursachen hinter der Essstörung liegen.
Grundsätzlich spielten bei der Entwicklung einer Magersucht sowohl biologische und soziale als auch individuelle psychologische Faktoren eine Rolle, sagen die Psychologen Dr. Stefan Unterecker und Dr. Roxane Sell vom Uniklinikum Würzburg. Auf sozialer Ebene gebe es Zusammenhänge zwischen in den Medien repräsentierten Schönheitsidealen und einer daraus resultierenden Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper.
Auf individueller Ebene seien vor allem Menschen mit negativen Lebens- oder unsicheren Bindungserfahrungen in der Kindheit betroffen. Aus diesen Erfahrungen resultierten nicht selten ein hoher Leistungs- und Perfektionsanspruch, ein niedriges Selbstwertgefühl und der Wunsch nach Kontrolle, so Unterecker und Sell.
Beginn der Krankheit oft im Kindes-und Jugendalter
Auch wenn sich eine Magersucht in allen Altersgruppen und unabhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Hintergrund entwickeln kann, seien es doch immer noch vermehrt Frauen und Mädchen, die im Laufe ihres Lebens an einer Magersucht erkranken, sagt eine Sprecherin des Bundesfachverband Essstörungen e.V.: "Man geht von einem Geschlechterverhältnis von rund zehn zu eins aus" - auf zehn weibliche Betroffene komme ein männlicher.
Viele Betroffene erkranken dem Verband zufolge im Kindes- und Jugendalter erstmals an Magersucht: "Circa ein Fünftel der elf- bis 17-jährigen Jugendlichen zeigen Symptome von Essstörungen. Unter den Zwölf- bis 35-Jährigen leiden 0,3 bis 0,6 Prozent an einer Magersucht", teilt eine Verbandssprecherin mit. Genaue Zahlen gebe es leider nicht, da die Dunkelziffer sehr hoch sei. Eine weitere Erkenntnis: Während der Corona-Pandemie sind die Magersuchts-Fälle im Kindes- und Jugendalter stark angestiegen,
.Welche Tricks Betroffene anwenden, um nicht aufzufallen
In ihrem Alltag schränken die Blicke und Kommentare fremder Menschen Betroffene ein. Die Studentin hat verschiedene Strategien entwickelt, um möglichst nicht gesehen zu werden: "Ich trage nur weite Kleidung, um meine Figur zu verstecken, und gehe Wege, die kaum genutzt werden." Sie laufe nicht durch die Innenstadt, halte den Kopf gesenkt, um sich vor Blicken zu schützen und gehe einkaufen, wenn andere noch nicht unterwegs sind, weil sie sich so sehr schäme, sagt die junge Frau. Soziale Kontakte pflege sie keine mehr.

Auch wenn sie bereits seit 13 Jahren mit der Krankheit lebt: an die Reaktionen der Öffentlichkeit könne sie sich nicht gewöhnen, sagt die Studentin. Jeder einzelne Blick verletze sie noch heute. Auch sinke das Selbstwertgefühl durch solche Aussagen noch mehr, wodurch man noch unsicherer und empfänglicher für Blicke und Kommentare werde.
Selbsthilfegruppenleiterin Katja Hippe kennt solches Verhalten und unangebrachte Kommentare wie "Guck dir das Skelett an!" oder "Die frisst ja nichts" nur zu gut: "Man erhält schiefe oder erschrockene Blicke, versucht weite Kleidung zu tragen – am Ende sieht man es doch immer im Gesicht." Diplom-Sozialarbeiterin Lauer glaubt, dass der Leidensdruck bei Betroffenen durch solche Situationen enorm hoch ist. Denn sie könnten Außenstehenden nicht begreifbar machen, dass sie nicht anders handeln können - die Krankheit zwinge sie dazu.
Wie Angehörige und Außenstehende auf Magersucht reagieren sollten
Verständnis für ihre Krankheit verlangt die Studentin nicht, sie selbst verstehe sich und ihr Handeln auch oft nicht - was aber nicht bedeute, dass es deshalb kommentiert und verurteilt werden müsse. "Ich verurteile andere Erkrankungen auch nicht", sagt sie. Im Kontakt mit Betroffenen sei es ein guter Weg, den Menschen hinter der Erkrankung wahrzunehmen und ihm die Chance zu geben, ihn mit seiner Persönlichkeit kennenzulernen.
Während sich Außenstehende oder fremde Menschen nicht einmischen sollten, rät Linda Lauer von der Suchtberatung der Caritas engen Angehörigen auf jeden Fall dazu, zu reagieren. Sei es bei der Suche nach professioneller Hilfe oder mit viel Verständnis und Gesprächsbereitschaft. Mit Sätzen wie: "Ich sehe dein Leid. Ich sehe, dass es schwer ist" gestehe man Betroffenen die gesuchte Autonomie und Kontrolle zu und zeige gleichzeitig, dass man für sie da ist.
Auch Katja Hippe sagt, Freunde und Familie sollten bei Essstörungen vor allem mit viel Liebe, Verständnis und Geduld reagieren. Drohungen und Schuldzuweisungen würden nichts bringen. Auch sollte man Betroffene nicht wie totkranke Personen behandeln, sondern einen normalen Umgang pflegen.
Hilfe für an Magersucht Erkrankte in UnterfrankenAnlaufstellen für Betroffene und Angehörige sind unter anderem Suchtberatungsstellen bzw. Psychosoziale Beratungsstellen. Neben Einzel-, Paar- und Gruppengesprächen, sowie anonymer Onlineberatung gibt es hier individuell passende Hilfeleistungen.Suchtberatungsstellen bieten etwa die Caritas an unterschiedlichen Orten in Unterfranken, die Diakonie oder das Bayerische Rote Kreuz an. Eine Selbsthilfegruppe Essstörung kommt beispielsweise jeden ersten und dritten Dienstag im Monat in Marktheidenfeld im Fränkischen Haus (Adenauerplaz 7) zusammen. Kontakt: Oliver Schneider (09352/843-121).Quelle: Sarah Schmittinger