Sehr geehrte Frau Noffz,
fünf Jahre. So lange ist es nun her, dass Sie von der Stiftungsdirektorin zur Krisenmanagerin wurden. Dass die Corona-Katastrophe im Würzburger Seniorenheim St. Nikolaus ihren Lauf nahm. Dass Sie als oberste Chefin fast zerrieben wurden zwischen Hiobsbotschaften, Ohnmacht und tausend Fragezeichen. Ein Rückblick darauf ist schmerzhaft, aber dieser Tage geboten.
Denn: Bis heute wurde die Pandemie nicht aufgearbeitet. Ich finde, das ist eine Ohrfeige für Hauptbetroffene wie Sie und alle Verantwortlichen und Engagierten in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern. Und ich halte es für eine vertane Chance fürs ganze Land. Unterlassene Hilfeleistung der Politik in Anbetracht gesellschaftlicher Spaltung.
Kritische Auswertung der Corona-Maßnahmen ist nötig
Was ist gut gelaufen, was schlecht? Wären Heime, Kliniken und Gesundheitsämter heute besser vorbereitet als vor fünf Jahren? 3G-Regel, Abstand, Versammlungsverbote, Schließungen: Die Corona-Maßnahmen müssen bewertet werden, um richtige Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Es ist auch über Fehler zu reden, wir sollten daraus lernen. Die nächste Pandemie kommt – auch wenn sie anders sein wird.
Gerade Betroffene wie Sie, liebe Frau Noffz, sollten jetzt eine ehrliche Aufarbeitung anmahnen, vehement und laut. Sie wäre ein Zeichen des Respekts und der vielleicht wichtigste Dank für alle, die an vorderster Front gegen die Pandemie gekämpft haben.

Sie haben den Einschlag damals hautnah erlebt und wissen, wie schwierig der Umgang damit war. Am 8. März 2020 wurde in dem zur Stiftung Bürgerspital gehörenden Nikolausheim der erste Bewohner positiv auf das Coronavirus getestet. Der 83-Jährige starb nur vier Tage später, der erste Corona-Tote in Bayern.
Es waren die Wochen, als beinahe täglich Särge aus Ihrem Heim getragen wurden – am Ende sollten es 25 sein. Sie starben an und mit Corona. "Tagesschau" und "heute"-Sendung berichteten, Ihre Würzburger Einrichtung wurde zum Symbol für die tödliche Pandemie. Später sollte es deutschlandweit Einrichtungen in ähnlicher Weise treffen.

Sie hatten das Pech, die Ersten zu sein. Alle Augen richteten sich auf Sie und das "Todesheim", so titelten Boulevardmedien. Das hat Sie getroffen, hat Sie verletzt. Später sprachen Sie von einem "Albtraum". Kein Jahr nach dem Ausbruch der Pandemie haben Sie gegenüber unserer Redaktion die Richtung gewiesen: "Wir müssen aus dem Ganzen lernen", dies sei eine wichtige Aufgabe. Und: "Die wirkliche Verarbeitung wird erst stattfinden können, wenn die Coronakrise vorbei ist."

Da wären wir nun. Fünf Jahre nach Ausbruch, bald zwei Jahre nach Ende der Pandemie. Sie hat nicht nur Ärzte und Pflegekräfte gefordert, sie hat unsere Gesellschaft erschüttert, unser Zusammenleben. Die Folgen der Pandemie sind bis heute spürbar. Es sind Risse entstanden, bis in Familien hinein.
Die einen haben still gelitten, weil sie sterbende Angehörige nicht mehr sehen konnten. Andere wollten Kapital aus der Situation schlagen, indem sie Verschwörungstheorien verbreiteten und laut gegen Schutzmaßnahmen wetterten. Die hitzige und teils widersprüchliche Debatte um die Impfpflicht – all dies hat das Land verunsichert.

Natürlich weiß man es hinterher immer besser. Die Schulschließungen werden heute angesichts der Kollateralschäden für die Kinder kritisch gesehen, damals war man von ihrer Richtigkeit überzeugt. Unstrittig ist, dass der Staat bisweilen übers Ziel hinausgeschossen ist – man denke an das Verbot, allein auf der Parkbank ein Buch zu lesen. Und doch hat die Pandemie viel Solidarität erzeugt: Nachbarn haben einander ausgeholfen, geschützt haben wir immer uns selbst und die anderen.
Aufarbeiten, um für nächste Pandemie besser gewappnet zu sein
Und es gab Anerkennung: Liebe Frau Noffz, Sie erinnern sich an den Applaus für die Pflegekräfte? Wir können uns gar nicht genug bedanken bei all jenen, die damals Übermenschliches geleistet haben – nicht nur im Nikolausheim. Wir sind ihnen die Aufarbeitung schon deshalb schuldig, um bei einer nächsten Pandemie besser gewappnet zu sein.
Aber es geht eben noch um viel mehr. Es geht um gesellschaftliche Heilung. Oder wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier jüngst sagte: "Wenn wir nicht aufarbeiten, dann bleibt das Verdrängte." Wo geschwiegen wird, keime Verdacht – und das spiele Populisten in die Hände.

Insofern ist es skandalös, dass sich die Parteien im Bundestag bisher nicht auf ein Gremium zur Aufarbeitung der Corona-Politik verständigen konnten. Die einen wollten einen breiteren Bürgerrat, die anderen einen Untersuchungsausschuss, wieder andere eine Enquete-Kommission. Ergebnis bisher: keines. Das ist verantwortungslos und beschämend.
Egal, welche Bundesregierung an diesem Sonntag gewählt wird: Möge Sie bitte schleunigst die Corona-Aufarbeitung auf den Weg bringen! Noch ist es nicht zu spät. Es wäre ein Beitrag, Spaltung im Land zu überwinden und Vertrauen in Demokratie und Staat zurückzugewinnen. Sollte dabei jemand die Dramatik der ersten Corona-Wochen verdrängt haben, geben Sie, sehr geehrte Frau Noffz, bestimmt gerne Nachhilfe.
Mit besten Grüßen,
Andreas Jungbauer, Redakteur
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