Kennen Sie den alten Witz? Beamten-Mikado? Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Unfair und überholt, keine Frage. Um das Bild dennoch aufzugreifen: Der Bundestagswahlkampf 2021 ist ein Mikado-Wahlkampf. Bloß nicht(s) bewegen: Genau das scheinen sich die Parteien auf die Fahnen beziehungsweise Plakate geschrieben zu haben. Jetzt keinen Fehler mehr machen. Keine Debatte lostreten, die man vielleicht nicht mehr in den Griff bekommt.

Es scheint, als hätte die ganze Welt erkannt, dass Deutschland mit dem Abtritt von Angela Merkel an einem entscheidenden Wendepunkt steht. Nur die Deutschen nicht. Eins scheint jedenfalls sicher: Die Zukunft dieses Landes wird sich nicht an der Frage der Lastenfahrräder entscheiden. Das britische Wochenmagazin "The Economist" titelte Mitte August: "Die deutschen Wähler verdienen einen ernsthafteren Wahlkampf".
Die jüngst absolvierte Dreier-Fernsehdiskussion dürfte dieses Defizit kaum behoben haben. Entsprechend unbegeistert waren die Reaktionen. Möglicherweise wurde der Begriff "Triell" (eine nicht ganz neue Wortschöpfung englischen Ursprungs) sogar heftiger diskutiert als die Einlassungen der Kanzlerkandidatin und der Kanzlerkandidaten. "Nicht gendern wollen, aber Triell sagen", lästerte etwa der Autor und Kolumnist Till Raether auf Twitter.
Unzählige Talkrunden, hohle Slogans
Inzwischen ist es offenbar egal, was wer sagt, solange er oder sie nichts von Bedeutung sagt. Umso einfacher ist es dann, irgendwas zu behaupten. Markus Söder etwa twitterte nach dem Triell: "Starker Auftritt und klarer Sieg von Armin Laschet." Das sah außer Söder kaum jemand so, jedenfalls nicht in den Umfragen. Außerdem wirkte der Tweet nach allem, was zwischen Söder und Laschet war, nicht mal halbwegs ehrlich. Die Antworten kamen prompt, eine "SchwesterUnbequem" konterte: "Herr Söder ist das jetzt dieser Satz der uns sagen soll, dass sie entführt worden sind ??"

Und sonst? Unzählige Talkrunden, in denen die Vertreterinnen und Vertreter der Parteien vor allem vor den jeweils anderen warnen. Eine bemerkenswert dilettantische Youtube-Show der JU mit dem Titel "Laschet machet"; ein Wahlkampfsong der Grünen, der, nun ja, jetzt nicht so wirklich kämpferisch rüberkommt. Und Plakate, die so nichtssagend sind, dass man sich wundert, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hat, sie aufzuhängen.
Eines lässt sich mit großer Plausibilität unterstellen: Keine der Parteien hat sich diesmal mit einer besonders kreativen Agentur in Unkosten gestürzt. Wenn doch, wäre es vielleicht eine gute Idee, dieses Geld zurückzuverlangen.
Wer ist nur bei SPD und FDP auf die Idee gekommen, die Kandidatinnen und Kandidaten grundsätzlich in Schwarz/Weiß abzubilden, und zwar so, dass sie zuverlässig gegen die farbigen Elemente in den Hintergrund treten? Und warum hat den Grünen niemand gesagt, dass niemand besonders vital wirkt, wenn er oder sie grün ist im Gesicht? Im wahrsten Sinne: Noch nie vom Ausdruck "grün um die Nase" gehört? Manchmal ist es vielleicht doch nicht so gut, wenn Form und Inhalt identisch sind. Und warum kommen in Bayern am Straßenrand gefühlt auf einen Laschet drei Söders, obwohl der gar nicht zur Wahl steht?
Und dann die Slogans. Alle sind fürs Klima, für Sicherheit, für Zukunft, für Arbeitsplätze, alle sind kompetent, erfahren und zuverlässig. Jedenfalls fast alle. Die AfD ist vor allem "deutsch" und "normal", um ja nicht modern, fortschrittlich oder gar weltoffen zu klingen.
Nur die Linke traut sich was. So viel Inhalt, dass einem schwindlig werden könnte: ÖPNV gratis und überall, Mieten deckeln, Mindestlohn rauf, Waffenexporte stoppen, Rente hoch, Eintrittsalter runter. Andererseits: Keine Kunst, die haben ja keine Kanzlerkandidatur in den Sand zu setzen.
Offenbar sind wir ein Volk, das vor allem will, das sich nichts ändert
Das eigentlich Ärgerliche: Der "Wahlkampf" offenbart das Bild, das die Parteien von den Wählerinnen und Wählern haben. Also von uns. Demnach wären wir ein Volk, das vor allem will, dass sich möglichst wenig ändert. Das weder mit Problemen noch mit Ideen behelligt werden mag. Das beim leisesten Anzeichen von Originalität oder Charakter scheut wie ein Turnierpferd beim olympischen Fünfkampf.
Haben wir das verdient? Vermutlich schon. Es ist ein Mikado-Wahlkampf für ein Mikado-Wahlvolk. Dabei trifft ausgerechnet die FDP mit einem Slogan den Nagel auf den Kopf: "Nie gab es mehr zu tun." Was und wie und wann, das steht nicht auf dem Plakat. Das wäre dann doch zu riskant.