Unter den Füßen der Besucher liegen Menschen begraben. Geliebte Menschen. Die liebevolle Mutter, der gutmütige Großvater, der beste Freund, das eigene Kind. An wohl keinem anderen Ort wird uns so bewusst, wie vergänglich das Leben ist. Wie vergänglich unser Leben ist. Wie nah Leben und Tod beieinander liegen. Auf dem Würzburger Hauptfriedhof sind es 18 000 Grabstätten. Einige Menschen gehen dort spazieren. Andere besuchen einen Menschen, der mit seinem Tod eine Lücke in deren Leben hinterlassen hat. Während einige Besucher mit ihrem Schmerz alleine sein möchten, wollen andere – wenn auch anonym – über ihren Verlust sprechen. Normalerweise ist Trauer eine private Angelegenheit. Sie findet in den eigenen vier Wänden statt. Auf dem Friedhof hingegen kann man sie förmlich greifen. Doch warum gehen Menschen überhaupt auf den Friedhof?
Der Friedhof als Ort der Ruhe
„Wir gehen etwa alle zwei Tage“, sagt eine Frau. Montag, Mittwoch, Samstag und Sonntag. Zusammen mit ihrer Mutter besucht sie das Grab ihres Vaters. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Sie reinigen das Grab, bringen Blumen mit oder eine Kerze. So wie heute. Die ältere der beiden Damen hält eine rote Friedhofskerze hoch. „Der Friedhof ist für mich ein Ort der Ruhe. Hier kann man auch einmal eine Sorge anbringen und von der Seele sprechen.“ Der regelmäßige Friedhofsbesuch liege beiden Frauen am Herzen. Hier könnten sie mit den Verstorbenen reden und Antworten finden. Dennoch wissen sie, dass nicht jeder die letzte Gedenkstätte so oft aufsucht wie sie. „Es kommt darauf an, wen man verloren hat, was einem der Mensch bedeutet hat“, meint die Mutter. „Für mich war es der beste Papa auf der Welt. So einen gibt es kein zweites Mal“, sagt die Tochter nachdenklich. Ihre Mutter nickt zustimmend, schluckt schwer.
Ein paar Grabreihen weiter läuft ein großer, grauhaariger Mann zielstrebig auf eines der Gräber zu. In der einen Hand hat er eine weiße Kerze, seine andere Hand hält er schützend vor die Flamme. Behutsam stellt er die Kerze auf die weiß-marmorierte Grababdeckung. Es ist das Grab seiner Schwiegermutter. Seit 1978 liegt sie hier begraben. Gerne beantworte er ein paar Fragen, aber für Friedhofsbesuche sei er der falsche Ansprechpartner, meint der Mann. „Ich brauche keinen Friedhof zum Trauern – auch keine andere Gedenkstätte.“ Etwa zwei- bis dreimal komme er im Jahr her. Nicht öfter. Normalerweise ist seine Frau dabei, doch heute hat sie einen Arzttermin. Dann besucht er mit ihr gemeinsam seine Schwiegermutter und seine Eltern, die aber nicht auf dem Hauptfriedhof begraben seien.
Einige Gräber sind mit Blumen geschmückt - andere nicht
„Ich mache nur die Gräber sauber und stelle ein Licht hin.“ Er selbst will seine Überreste ins Meer schütten lassen. Auf den Friedhof gehen, um zu trauern, bezeichnet der Mann als Zirkus. „Was man in Lebzeiten nicht gemacht hat, kann man mit Blumen nicht mehr nachholen.
“ Und das versucht der Friedhofsbesucher auch gar nicht. Auf dem Grab seiner Schwiegermutter steht neben der Kerze nur ein kleiner weißer Engel, der einen Handkuss wirft. Auf den Nachbargräbern sind große Blumenschalen mit Besenheide und Silberblatt, Gestecke aus Tanne und Gräsern. Nachdem der Mann das Grab vom restlichen Schmutz befreit hat, greift er zur Gießkanne und geht.
Einige Gräber wurden erst vor kurzem gereinigt. Kein Steinchen liegt am falschen Platz. Andere sind von mehreren Blättern bedeckt. Immer wieder fahren Gärtner durch die Reihen. Eimer klappern aneinander. Rechen scheppern über den Boden. Es regnet leicht. Von den großen Bäumen fallen Blätter zu Boden. Sie machen das Laufen auf dem Steinpflaster zu einer rutschigen Angelegenheit. Ein älterer Mann biegt um die Ecke. Die Hände hat er tief in den Taschen seiner schwarzen Regenjacke vergraben. Mit leicht gebückter Haltung versucht er möglichst wenig Regentropfen abzukriegen. Der nasse Sand unter seinen Schuhen knirscht. „Ich komme eigentlich täglich auf den Hauptfriedhof“, sagt er. Jedoch vermeide er es, beispielsweise an Tagen wie Allerheiligen auf den Friedhof zu gehen. Das sei für ihn zu viel Trubel.
Auch alte Erinnerung finden auf dem Friedhof Platz
„Meine Frau ist sehr jung gestorben.“ Neben ihr sind dort auch seine Großeltern und Eltern begraben. Nichtsdestotrotz finde er auf dem Friedhof auch viel Leben. Er freue sich über die Blumen und das Vogelgezwitscher. Ein zufriedenes Lächeln macht sich auf seinem Gesicht breit. „Früher hätte ich nicht gedacht, dass ich später so oft auf den Friedhof gehe“, scherzt er. Mittlerweile gehört der Friedhofsbesuch für ihn dazu. Danach macht er oft einen Stadtbummel oder Spaziergang. Doch kommen auch alte Erinnerungen hoch. Als einige Vögel beginnen zu singen, hält er kurz inne. Als sein Vater beerdigt wurde, habe seine Mutter zu ihm gesagt: „Hör mal, wie das Vögelchen zwitschert.“ Seine braunen Augen füllen sich mit Tränen. Seine Unterlippe zittert leicht. Leises Schluchzen. Traurig mache ihn der Ort trotzdem nicht. „Ganz im Gegenteil“, erwidert der Mann und kann schon wieder lächeln.
Während auf einem Grab die Sonnenblumen bereits die Köpfe hängen lassen, ist der Grabstein zwei Parzellen weiter vor lauter Gestecken und Trauerkränzen kaum zu sehen. Ein Blick auf das Datum verrät: Der Mann ist erst vor wenigen Tagen gestorben. Besonders farbenfroh, beinahe fröhlich dekoriert sind die kleinen Gräber im Garten der Sternenkinder. Trotzdem geht der Anblick besonders an die Nieren. Hier finden ungeborene Babys ihre letzte Ruhe. Knapp 50 Meter weiter gräbt eine Frau ein Grab um. Mit einer kleinen Schaufel buddelt sie Löcher in die Erde, setzt neue Pflanzen hinein. Ein älterer Mann steht neben ihr. Zwei- bis dreimal pro Jahr gehe sie auf den Friedhof. Ihr Vater hingegen sei häufiger hier. Sie blickt zu dem Mann. „Ich habe es nicht weit hierher“, erwidert er.
Im Sommer komme er alle zwei Tage zum Grab seiner Eltern und Großeltern – meistens zusammen mit seiner Frau. „Normalerweise komme ich bei schönem Wetter. Für heute war eigentlich Sonnenschein angesagt“, sagt sie, lächelt und blickt kritisch zum grauen Himmel.
Ab und zu machen die Hinterbliebenen auch einen Scherz
Beim Abschiednehmen helfe ihr der Ort nicht. „Dafür brauche ich den Friedhof nicht.“ Ihre Großeltern seien schon zu lange tot – mehr als 20 Jahre. Ihr Vater stimmt zu: „Man kann auch an einen Menschen denken, ohne auf den Friedhof zu gehen.“ Warum er trotzdem auf den Friedhof geht? „Als echter Würzburger kommt man zwangsläufig her.“ Wenn Vater und Tochter am Grab stehen, sprechen sie Sorgen und Ängste an. Aber machen auch mal einen Scherz. Erst beim Umgraben habe die Frau zu ihrer verstorbenen Großmutter gesagt: „Heute hast du aber einen Haufen Regenwürmer, Oma.“
Die Sonne versucht sich durch die dichten Wolken zu kämpfen. Doch der Regen hält sich hartnäckig und legt noch einmal zu. Eine Besucherin hält ihren Schirm schützend über die grauen Locken. Sie hat einen Blumenstrauß aus orangenen Gerbera und gelben Knopfchrysanthemen dabei. „Meine Mama hat heute Geburtstag“, sagt die Frau. 92 Jahre wäre sie heute geworden. Ihr Tod ist 18 Jahre her. Allerdings besuche sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihre Tochter. Im Februar ist ihr Kind gestorben. „Meine Tochter war schwerbehindert. Sie durfte einfach einschlafen. Es war eine Erlösung für sie“, sagt die Frau gefasst. Einmal wöchentlich kommt sie hierher. Der Besuch ist ihr sehr wichtig. Ob sie sich nach dem Besuch erleichtert fühle? Die kleine Dame atmet schwer aus. Ihre Gefühle nach dem Gang auf den Friedhof einzuordnen, fällt ihr nicht leicht. Schließlich fährt sie fort: „Ja, manchmal fühle ich mich danach auch erleichtert.“ Mit gesenktem Kopft steht sie vor dem Grab ihrer Mutter, hält kurz inne. Dann legt sie den Strauß nieder und geht.
Der Würzburger Hauptfriedhof Der mehr als 200 Jahre alte Würzburger Hauptfriedhof ist mit einer Fläche von 112 727 Quadratmetern und 18 000 Grabstätten der größte Friedhof der Stadt. Er ist in zwölf Abteilungen geteilt. Neben allgemeinen Grabfeldern mit Wahlgräbern findet man hier unter anderem auch Ehren- und Kriegsgräber. Neben dem Haupteingang in der Martin-Luther-Straße befindet sich ein Massengrab, in dem über 5000 Menschen liegen. Sie starben in der Bombennacht am 16. März 1945. Auch bekannte Persönlichkeiten sind auf dem Hauptfriedhof begraben, beispielsweise der deutsche Maler Wilhelm Leibl, der deutsche Dichter Max Dauthendey und der Anatom und Physiologe Albert von Koelliker. Mehrmals jährlich werden dazu Themenführungen angeboten. Weitere Friedhöfe in Würzburg sind in Heidingsfeld, Lengfeld, Oberdürrbach, Rottenbauer, Unterdürrbach, Versbach, der Waldfriedhof in Heidingsfeld und der Israelitische Friedhof in Lengfeld.