Das Frühstück am Küchentisch zuhause bei seinen Eltern in Sennfeld hat er noch nie bewusster erlebt als kürzlich, erzählt Yusuf Emre Kasal, Ex-Profifußballer und künftiger Trainer des pfälzischen Oberligisten TuS Mechtersheim. Hinter ihm lag die härteste Erfahrung seines Lebens: Er kehrte an den Ort zurück, an dem er vier Jahre lang, von 2016 bis 2020, gefeierter Fußballer war.
Als Kapitän führte er Kahramanmarasspor in der dritthöchsten türkischen Spielklasse aufs Feld. Nun kam er zurück in die 660.000-Einwohner-Stadt Kahramanmaras im Süden Anatoliens, die vom verheerenden Erdbeben besonders hart getroffen wurde, um den Menschen dort zu helfen.

Die Bilder, die nach den Erdbeben in der Türkei und Syrien um die ganze Welt gingen, waren eindringlich, erschreckend, zu tiefst bedrückend. Kasal dachte, er sei vorbereitet gewesen auf das, was auf ihn warten wird, als er mit drei Freunden von Deutschland aus los in die alte Heimat zog. Direkt nach der Katastrophe begann der 34-Jährige, in seinem Umfeld Geld, das er dann selbst in die Krisenregion bringen wollte, zu sammeln. Die Resonanz war außergewöhnlich. Innerhalb weniger Tage kamen rund 16.000 Euro zusammen. Erste benötigte Hilfsgüter, wie Unterwäsche und Hygieneartikel, kauften die Männer bereits in Deutschland und reisten dann mit vollen Koffern per Flugzeug von München aus in die Türkei.
Schockierende Zustände nach der Ankunft im türkischen Kahramanmaras
"Es war ein riesiger Schock", schildert Kasal die Ankunft in den Morgenstunden in Kahramanmaras. "Die Stadt war nicht wiederzuerkennen." Das Ausmaß der Verwüstung ist immens. "Die ganze Stadt steht total unter Schock." Die mitgebrachten Hilfsgüter überreichte das Quartett an koordinierten Hilfsstellen. Anschließend halfen sie betroffenen Familien, die Kasal noch aus seiner Spielerzeit kannte, direkt. "Es gab auch für viele gar keine Möglichkeit mehr, raus aus der Stadt zu kommen."

So wurden unter anderem Frauen und Kinder raus aus Kahramanmaras in Sicherheit gebracht. Die Männer blieben häufig, um in den Trümmern weiter nach Überlebenden oder Leichen zu suchen. Kasal berichtet von gleichzeitig herzzerreißenden wie grausamen Szenen, die er vor Ort sah oder erzählt bekam. "Die Menschen dort sind schwer traumatisiert."
Yusuf Emre Kasal hörte manchmal auch einfach nur zu
Der Mann, der in der Jugend für den FC 05 Schweinfurt, den 1. FC Nürnberg und anschließend ein Jahr beim Würzburger FV spielte, traf sich mit etlichen Bekannten, die direkt vor Trümmern, an den Stellen, wo kürzlich noch ihre Häuser waren, standen. Er hörte einfach zu. "Die materielle Unterstützung ist das Eine", blickt er zurück. "Viel wichtiger – das war mir vorher nicht bewusst – war vielleicht die mentale Unterstützung." Es sei ein wichtiges Zeichen für die Opfer der Katastrophe, dass sich Menschen, die von weit weg kommen, um sie Gedanken machen und ihnen zeigen, dass sie nicht alleine gelassen werden.
Mit alten Weggefährten, Freunden, Bekannten, Co-Trainern oder Trainern lag Kasal sich in den Armen. Es flossen Tränen, die Emotionen kannten kein Halten. Fast alle von ihnen haben Angehörige verloren, oft auch Kinder. Ein früherer Co-Trainer konnte mit seiner Frau geborgen werden, ein Sohn im Zimmer daneben starb sofort in der Nacht des Erdbebens, sein Bruder lebte noch, war aber von Trümmern eingeschlossen.
Das Stadion dient mittlerweile als Zufluchtsort
Der Vater verweilte ununterbrochen an den Trümmern, um den Sohn mit Wasser zu versorgen, auch nachts war er da, um zu verhindern, dass freilaufende Hunde oder andere Tiere ihn angreifen könnten. Auch der zweite Sohn verstarb nach zwei Tagen. Unzählige weitere Geschichten gibt es, die Kasal besser gar nicht im Detail erzählen möchte – Lichtblicke allerdings auch: Ein ihm bekanntes Pärchen suchte über fünf Tage nach dem vierjährigen Sohn, der dann in einem Krankenhaus in einer 400 Kilometer entfernten Stadt ausfindig gemacht wurde.
"Ich hatte so viel Erinnerungen an dieses Stadion. Jetzt sah ich da Leute, die um ihr Überleben kämpfen."
Yusuf Emre Kasal über seinen Aufenthalt an seiner früheren Wirkungsstätte in Kahramanmaras
Tausende Menschen wurden in der Nacht aus ihrem Leben gerissen und verloren alles. "Ich wusste oft nicht, wie ich auf die Menschen reagieren soll, auf so etwas kannst du dich gar nicht vorbereiten", stellte Kasal dann letztlich fest. Er ging mit Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft auf die Leute zu. Er stand auch an der Stelle, an der damals seine Wohnung war. Dort sind heute nur noch Trümmer. "Das hätte auch jeden Moment passieren können, als ich dort gelebt habe."

Auch sein damaliges zweites "Wohnzimmer", das Stadion "Merkez Spar Kompleksi", erkannte er kaum wieder, obwohl es nicht im vom Erdbeben betroffenen Gebiet steht. Unten auf dem grünen Rasen, wo er Erfolge feierte, Tore schoss und Niederlagen einstecken musste, steht jetzt Zelt an Zelt, als Hilfslager für die Menschen, die ihr Zuhause verloren haben.
"Ich hatte so viel Erinnerungen an dieses Stadion. Jetzt sah ich da Leute, die um ihr Überleben kämpfen. Irgendwie hat das Erdbeben auch meine Erinnerungen an die Stadt ausgelöscht." Der frühere Kapitän von Kahramanmarasspor lief noch einmal über das Spielfeld, zwischen den Zelten entlang, verteilte Schokolade an die Kinder – und war einfach da für seine Stadt und seine Leute.