Selten wird in allen veröffentlichten Leserbriefen die gleiche Meinung vertreten. Angesichts sonst durchaus erkennbarer Freude an kontroversen Debatten überrascht jede Einstimmigkeit. Genau die gab es aber zur geplanten Entfernung der hölzernen Figur des schwarzen Königs Melchior mitsamt den anderen Königen aus der Krippe im Ulmer Münster im Leserforum der Zeitung vom 17. Oktober. Die Überschrift über den Beiträgen: "Das Christentum spricht jeden Menschen an, egal welcher Hautfarbe".
Zur Erinnerung: Die Darstellung des Königs mit dicken Lippen und unförmiger Statur erschien dem zuständigen Dekan der evangelischen Gemeinde aus heutiger Sicht eindeutig als rassistisch. Sechs am 17. Oktober veröffentlichte Stimmen aus der Leserschaft und zwei schon am 13. Oktober wandten sich in der Tendenz gegen diese Entscheidung des Ulmer Dekans, die Figuren deshalb zu entfernen. Die Maßnahme war dargestellt am 12. Oktober im Beitrag "Wirbel um König Melchior".
Einseitigkeit? Ein Missverständnis.
Manche Leser reagieren in einem solchen Fall von Einseitigkeit in Leserforen eher misstrauisch. So will Herr T.L. von mir wissen, warum kein Brief zur Verteidigung der Maßnahme zu lesen war und ob wirklich keine Zustimmung eingegangen sei. Dass tatsächlich keine vorgelegen hat, bestätigt mir glaubhaft die für Leserbriefe zuständige Redaktion.
Ein Missverständnis muss ich aber auch in diesem Fall ausräumen, und das nicht zum ersten Mal: Selbst wenn zustimmende, aber nicht abgedruckte Briefe vorgelegen hätten, träfe der gerne an die Redaktion gerichtete Vorwurf der „Zensur“ nicht zu. „Zensur“ verbietet das Grundgesetz in Artikel 5 zum Schutz der Pressefreiheit. Das heißt, es darf keine Eingriffe, etwa von staatlicher Seite, in die Entscheidungsfreiheit der Medien geben. Ablehnende Entscheidungen von Redaktionen sind folglich keine Zensur. Sie unterliegen aber Regeln.
Ausnahmen von der Regel
Theoretisch hätte die Redaktion sogar die Freiheit, wirklich nur Stimmen abzudrucken, die nur eine Meinung vertreten, obwohl auch andere vorliegen. Keine Sorge. Das geschieht in der Regel nicht. Zu Ausnahmen, die nicht veröffentlicht werden, gehören: Verleugnen von demokratischen Grundwerten, die auch offenkundige Diskriminierungen und Rassismus verbieten, Behauptungen von erkennbar falschen Tatsachen, Beleidigungen und Ehrverletzungen.
Zuweilen liegen aber zu viele vergleichbare Stimmen vor, so dass auf einige davon - auch aus Platzgründen - in der Zeitung verzichtet wird.
Zielen veröffentlichte Leserbriefe alle nur in eine Richtung, kann das auch am Ausgangsartikel liegen, auf den sie sich beziehen. Leser*innen, die darin eigene Argumente schon ausreichend betont sehen, fühlen sich mutmaßlich weniger herausgefordert, selbst noch etwas dazu zu sagen. Damit bleiben ihre Stimmen aus.
Die Verpflichtung der Redaktion
Über allem steht jedoch ohnehin die Verpflichtung dieser Redaktion zur Unabhängigkeit und Überparteilichkeit. Im konkreten Fall sagen dazu die Kodex des Deutschen Presserates in seiner Richtlinie 2.6.: „Bei der Veröffentlichung von Leserbriefen sind die Publizistischen Grundsätze zu beachten. Es dient der wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit, im Leserbriefteil auch Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die die Redaktion nicht teilt.“ Daran muss sich die Redaktion messen lassen.
und auch derZurück zu Leser T.L., der - anders als die Leserbriefe - die Maßnahme von Ulm ausdrücklich befürwortet. Er hat sich nach eigenen Worten vom Christen zum Atheisten entwickelt und kündigt an, dass er im Januar wahrscheinlich im dritten Jahr seine kritischen Argumente an den mit geschwärzten Gesichtern herumlaufenden „Heiligen Drei Königen“ einsenden werde.
Wir sind gespannt, zumal auch die Debatte um die Könige von Ulm wohl längst nicht zu Ende ist.



Ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:
2019: "Das Missverständnis mit der Zensur"
2019: "Ein Leser, der sich bedroht fühlt"
2018: "Diskussionsmüll vermeiden"
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute