Des Todes im Straßenverkehr und der Berichterstattung darüber nimmt sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon längere Zeit an. Sie rät Journalisten, sich nicht alleine auf Polizeiberichte zu verlassen. Zu oft werde dabei versucht, die Schuld für Unfälle auf Einzelne abzuwälzen. Es gelte jedoch, weitere Faktoren zu recherchieren, die von der Sicherheit beteiligter Fahrzeuge bis zur Beschaffenheit der Straße reichen.
Im "Journalism Review" der renommierten Columbia-University (New York), dem ich die folgenden Informationen entnommen habe, kann man mehr dazu lesen. Jon Allsop berichtet dort von WHO-Schulungen, die es seit 12 Jahren für Journalisten aus Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen gibt - in Asien, Afrika und Lateinamerika. Weltweit würden dort mehr als neunzig Prozent der Verkehrstoten gezählt, aber nur sechzig Prozent der Fahrzeuge. Selbst in den USA sieht man im Vergleich mit reichen Ländern Probleme. Da ist es wichtig zu ergänzen, dass jeder Verletzte und Tote auf unseren Straßen auch einer zu viel ist.
Der "Spurwechsel mit Folgen"
Dazu ein regionales Beispiel mit Blick auf Unfallfaktoren: Im Februar ist in der Main-Post sinngemäß zu lesen, dass drei Autofahrer zwischen Höchberg und Waldbüttelbrunn (Lkr. Würzburg) zum Teil schwer verletzt worden sind. "Spurwechsel mit Folgen" steht in der gedruckten Ausgabe ganz oben. Beim Versuch eines Fahrers, auf Höhe einer Abzweigung mit seinem Wagen die Spur zu wechseln, so die Darstellung der Polizei, habe es die Kollision mit einem anderen Fahrzeug gegeben. Dieses sei in den Gegenverkehr geschleudert worden und frontal gegen ein weiteres Fahrzeug geprallt.
Recherchen, die über den Polizeibericht hinausgehen
Alleine ein versuchter Spurwechsel eines Fahrers steht aktuell wie der Auslöser da, keine denkbaren weiteren Faktoren, etwa die Verkehrsführung bei der angesprochen Abzweigung von der Bundestraße 8. Klar, denn es handelt sich lediglich um eine erste Schilderung des Hergangs. Das könnte sich bei nachfolgenden Untersuchungen des Unfalls, von denen in der Zeitung nur selten zu lesen ist, noch ändern. Ohne Medien werden aber weitere mögliche auslösende Faktoren, die über den Spurwechsel eines Fahrers hinaus gehen, kaum die Gesellschaft erreichen können. Und letzteres strebt die WHO ja auch an. Es gelte die Denkmuster zu erweitern. Gewiss können da in einzelnen Fällen eigene journalistische Recherchen nachhelfen, auch solche, die dann über den Polizeibericht hinausgehen. Ein Beispiel für weitergehendes Denken ist der Hinweis auf die Infrastruktur für die Sicherheit von Radfahrern. Siehe dazu unterfränkische Polizeistatistik 2022.
Nicht alleine an der individuellen Verantwortung als traditionellem Paradigma festhalten
Dass Menschen immer Fehler machen und dass das bei der Gestaltung von Straßen und Fahrzeugen zu berücksichtigen ist, lautet die Idee für den WHO-Aktionsplan zur Straßenverkehrssicherheit. Ausbildung von Journalisten solle "Lobbyarbeit und politische Unterstützung" für die Schaffung sicherer Straßen stärken. Es gelte vom "traditionellen" Paradigma, das eine individuelle Verantwortung Einzelner in den Mittelpunkt stelle, zu neuen Denkweisen zu wechseln.
So fördere beispielsweise das US-Verkehrsministerium sichere Geschwindigkeiten durch gute Straßengestaltung und die Verbesserung der Versorgung nach Unfällen. Und auch die Main-Post macht zuweilen abseits vom Unfallgeschehen auf einen erbärmlichen Straßenzustand (so bespielsweise zwischen Bad Kissingen und Bad Neustadt) aufmerksam.
Faktoren, die hierzulande kaum zu übersehen sind
Journalisten Lobbyarbeit anzudienen, geht allerdings nicht, liebe WHO, selbst wenn ein Wechsel der Denkweise im Umgang mit Unfallmeldungen der Polizei gewiss nicht schadet. Und für Berichte zur Sicherheit auf Verkehrswegen, sind hierzulande auch ohne WHO wichtige Faktoren für Recherchen kaum zu übersehen: So beispielsweise die Geschwindigkeiten und deren generelle Begrenzung, über die gerne gestritten wird. Dazu die Abkehr von den über viele Jahrzehnte gewachsenen Windschutzscheiben-Perspektiven, die unser Denken prägen.
Wichtig: Diese meine Erläuterungen und Gedanken enthalten keine Schuldzuweisung.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Ergänzende Leseranwalt-Kolumnen zu Verkehrsunfällen:
2009: "Leichentuch und Metallsarg nach einem Unfall schockieren"
2009: "Der konkrete Online-Tipp und einem tödlichen Unfall war ein Missgriff"
2014: "Welche Folgen brandheiße Bilder und Unglücksnachrichten im Internet haben können"
2014: "Wenn Informationsinteresse der Öffentlichkeit mit dem Leid der Hinterbliebenen in Konflikt kommt"
2018: "Unfall: Verharmlosende oder spaßige Überschrift vermeiden"
2028: "Verpixeln oder nicht?"