Klischees sollten in Berichten besser nicht bedient werden. Frau M. E. verweist mich auf ein Beispiel. Ihr ist aufgefallen, dass ein Vergewaltiger in allen Artikeln als ehemaliger Kickboxer hervorgehoben ist, letztmals am 8. Juli auch in der Zeitung (Überschrift: "Urteil gegen früheren Kickboxer rechtskräftig"). Sie fragt zurecht: Welcher Zusammenhang besteht mit den Taten? Solle das Klischee bedient werden: Kampfsportler = potenziell gewalttätig? Sie fügt hinzu, dass der Täter auch Lehramtsanwärter gewesen sei.
Kickboxen als Reizwort für diesen Kriminalfall
Ich bestätige: Wiederholt war nicht nur von dieser Zeitung über die sportliche Vergangenheit des verurteilten Täters berichtet worden, dem schwerer sexueller Missbrauch und mehrere Vergewaltigungen, unter anderem eine besonders schwere mit gefährlicher Körperverletzung, zur Last gelegt werden.
So ist Kickboxen zu einem auch Suchmaschinen-optimierten Reizwort für digitale Artikel zu diesem Kriminalfall geworden. Und stete Wiederholungen haben die Aufmerksamkeit für die Gewalttat eines Kampfsportlers wohl noch vermehrt. Hätte es sich beim Täter um einen Verwaltungsangestellten gehandelt, ist anzunehmen, dass das kaum in einer Überschrift erwähnt worden wäre.
Richter erklärte, er habe nicht über einen Kickboxer geurteilt
Den zutreffenden Argumenten von Frau M. E. füge ich nichts hinzu. Sie betont, dass sie damit keine schrecklichen Gewalttaten relativieren wolle. Kickboxen muss man nicht mögen. Aber Athleten, die es betreiben, werden nicht für kriminelle Gewalt trainiert, selbst wenn es Personen geben mag, die ihre sportlichen Fähigkeiten missbrauchen.
Kickboxen im Kontext mit Gewaltkriminalität stellt einen solchen negativen Deutungsrahmen her. Immerhin hat der Vorsitzende Richter, Thomas Schuster, in der Verhandlung Distanz hergestellt, als er erklärte, er habe "nicht über ein Monster, nicht über einen Kickboxer geurteilt, sondern über einen Menschen, der schwere Schuld auf sich geladen hat". Ein Hinweis darauf, dass die Kampfsportart im Kontext zu den Gewalttaten als Reizwort geprägt war.
Negativer Deutungsrahmen
Man mag daran auch ermessen, wie Nachrichtenjournalismus ein Framing schaffen kann. Das heißt, es wurde einerseits bewusst ein negativer Deutungsrahmen hergestellt, der andererseits aber auch Orientierung für Rezipienten bietet. Frames lassen sich folglich sowohl im Verstand des Menschen ausmachen, als auch in kommunizierten Inhalten, erkennt sinngemäß der Medienwissenschaftler Jörg Matthes (Uni Wien in "Framing"/Nomos 2014). Mehr zur Forschung dazu findet sich auch in "Spektrum der Wissenschaft" (2019): "Wie mächtig Framing wirklich ist".
Selektionskriterien für Journalismus
Als Selektionskriterien für den Journalismus zählen in erster Linie Nachrichtenfaktoren wie Negativismus, Sensationalismus, Personalisierung oder Emotionalisierung, stellen die Münchner Kommunikationswissenschaftler Hans-Bernd Brosius und Viorela Dan in ihrem Buch "Fake News, Framing, Fact Checking: Nachrichten im digitalen Zeitalter"(Bundeszentrale für pol. Bildung, S. 271) fest. Das klingt wie eine Warnung. Die beiden weisen darauf hin, dass diese Faktoren auch von Wahlkämpfern strategisch genutzt werden können. Sie erklären zudem, was noch Einfluss darauf haben kann, dass sich Framings als Deutungsrahmen in Medien verbreiten. Dazu mehr in einem meiner nächsten Beiträge.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute.
Frühere ähnliche Leseranwalt-Beiträge:
2016: "Wie Sprache unser Denken und Handeln lenkt"
Mai 2020: "Wie eine Schlagzeile über Bill Gates wirkt"
Februar 2021: "Medien-Wissen, dass Allgemeinbildung sein sollte"