Das Holzboot gleitet sanft über die Wellen. Aus den Lautsprechern klingt Rod Stewarts Hit „I am sailing“. Der Himmel liefert sich einen Wettstreit mit dem Meer um den sattesten Blauton. Kitschiger geht es kaum. Die Brise ist nicht steif genug, um die Segel zu setzen, aber es geht um den Effekt. Wer nur einen Tag Zeit hat für die „Blaue Reise“, der sollte zumindest kurz in den Genuss dieses völligen Gefühls der Freiheit auf dem Meer kommen, denkt sich der Kapitän wohl. Kurz darauf wird der Motor wieder angeworfen und es geht mit deutlich mehr PS zurück in den Hafen von Bodrum, der größten Stadt auf der gleichnamigen türkischen Halbinsel in der südlichen Ägäis.
Hier wirkt das Meer wie eine Bühne und die weißen zweistöckigen Häuser, die übereinander in den Hängen kleben, wie die Stufen des dazugehörigen antiken Theaters. Davor liegen Dutzende weiterer Gulets auf dem Wasser. So heißen die bauchigen Motorsegler, die Bodrum in den 1970er Jahren für Touristen interessant gemacht haben. Sie und die „Blaue Reise“. Sie führt für einen oder mehrere Tage – je nach Zeit, Lust und Geldbeutel – entlang der Küste der Halbinsel oder zu den Inseln, die zahlreich das Meer zwischen Griechenland und der Türkei sprenkeln.
400 Gulets liegen im Hafen bereit
Erfunden hat die „Blaue Reise“ der Schriftsteller Cevat Sakir Karaabagcli, auch bekannt als der Fischer von Halikarnassos, so lautet der alte Name Bodrums. Karaabagcli lebte im Exil auf der Halbinsel und nahm Freunde gerne mit auf mehrtägige Touren durch die Ägäis. Inzwischen sind die Gulets hochmodern ausgerüstet, werden aber nach wie vor in den Werften von Bodrum gefertigt. 400 liegen im Hafen bereit, um Touristen zum Beispiel zur „Schwarzen Insel“ zu bringen. Dort, wo einst die ägyptische Königin Kleopatra in der Thermalgrotte gebadet haben soll, stehen jetzt hellhäutige Europäer an der verrosteten Stahltreppe Schlange, um im mineralhaltigen Wasser für ein Selfie zu posieren oder auf Tauchstation zu gehen.
Auch Bodrum ist in den vergangenen Jahren immer wieder auf Tauchstation gegangen, hat die Höhen und Tiefen der wankelmütigen Tourismusbranche mitgemacht. Inzwischen erleben die Halbinsel und die gleichnamige größte Stadt einen Boom. In den Sommermonaten versechsfacht sich die Zahl der Bewohner von 150 000 auf rund eine Millionen. Bodrum soll nach Istanbul das beste Nachtleben der Türkei bieten.
Promis haben die Gegend für sich entdeckt
Luxusanwesen wie „The Paramount“ buhlen mit kleinen, aber feinen Boutiquehotels um die Gunst der Touristen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viele türkische Promis und internationale Stars die Gegend für sich entdeckt haben. 2016 eröffnete der berühmte Nikki-Beach-Club einen Ableger. Hollywoodstar Diane Kruger hat sich in der Altstadt handgefertigte Ledertreter gekauft. Und Brad Pitt erlebte mit Angelina Jolie seine eigene „Blaue Reise“. All das hat Bodrum den Spitznamen St. Tropez der Türkei eingebracht und das Label hip, chic und lässig. Ein guter Zeitpunkt also für die Stadtoberen, um ehrgeizige Projekte voranzutreiben.
Eine U-Bahn soll bald vom Flughafen in Milas nach Bodrum Stadt führen. Auch an einem neuen Verkehrskonzept wird gearbeitet. Die enge Einbahnstraße entlang des Hafens soll für Fahrzeuge gesperrt werden, damit Touristen entspannter flanieren können. Hier, wo die Masten der Boote wie überbreite Zahnstocher dicht an dicht in die Luft ragen und der geschäftige Basar mit türkischen Gewürzen, Honig, Tee und gefälschten Gucci-Taschen nur einen Steinwurf entfernt ist, trifft das neue auf das alte Bodrum. Neben protzigen Yachten liegt das Hausboot von Mehmet Bas vor Anker.
Der Seebär ist Aufmerksamkeit gewohnt
In der Türkei kennt ihn jeder als den letzten Schwammtaucher oder einfach als „Aksona“, was so viel wie Dekompression bedeutet. Der 68-jährige Seebär ist Aufmerksamkeit gewohnt. Das Fernsehen war schon da, erzählt er und posiert mit pfannkuchengroßen Schwämmen in der Hand und einem Grinsen im wettergegerbten Gesicht für Fotos. Dann teilt er die Geschichte seines Leben: Wie er mit 13 seine erste Taucherbrille bekam und damit eine andere Welt entdeckte.
„Meine Mutter musste dafür eine kleine Ziege verkaufen.“ Oder, dass er zweieinhalb Jahre seines Lebens unter Wasser verbracht hat und von Mai bis Oktober mit fünf Kollegen monatelang auf einem kleinen Boot hauste. Doch diese Zeiten sind vorbei: Seit 2004 ist das professionelle Schwammtauchen in der Türkei verboten.
Wird Schwammtauchen Weltkulturerbe?
Jetzt möchte „Aksona“ seinem Beruf ein Denkmal setzen. Das alte Boot soll zum Open-Air-Museum werden und das Schwammtauchen immaterielles Weltkulturerbe der Unesco. Er selbst ist längst eine Kultfigur, wenn er – eine dampfende Pfeife im Mundwinkel – Sätze sagt wie: „Der einzige Lehrer, den ich jemals hatte, ist das Meer“. Ein bisschen hip, ein bisschen Halikarnassos eben.
Dass ehrgeizige Projekte Nerven kosten, davon kann Özay Kartal nur ein paar Straßen entfernt im Kern in der Altstadt ein mehrstrophiges Liedchen singen. Auch er versucht, das neue mit dem alten Bodrum zu verbinden. Der 47-Jährige steht im Bob-Marley-Shirt am Rande eines kleinen Kraters, der von einer mannshohen Mauer umgeben ist. In dieser Hinterhofatmosphäre befinden sich die Überreste eines der Sieben Weltwunder der Antike, das Mausoleum von Halikarnassos. Circa 350 v. Chr. noch zu Lebzeiten von König Mausolos erbaut, stürzte es im 12. Jahrhundert bei einem Erdbeben ein.
Das Mausoleumsprojekt ist nicht unumstritten
Im 15. Jahrhundert nutzten Kreuzritter die Überreste des Grabmals als Steinbruch für den Bau ihrer Burg im Hafeneingang der Stadt. Das Johanniterkastell St. Peter gilt heute als Wahrzeichen Bodrums und zieht mit seinem Museum für Unterwasserarchäologie mehr Touristen an als das Mausoleum, aus dessen Ruinen es erbaut wurde. Kartal möchte das ändern und dem Weltwunder mit der Academia Mediteranea Foundation, deren Präsident er ist, etwas von seiner alten Pracht zurückgeben. Das Gelände soll mit einem Glasbau überdacht werden, genauso hoch wie das ursprüngliche Mausoleum, circa 45 Meter. Das passt nicht jedem. Denn für das Projekt müsste eine Schule weichen und das Gebäude würde das Stadtbild entscheidend mitprägen. Denn in Bodrum dürfen die Häuser wegen der Erdbebengefahr nur zweistöckig gebaut werden. Also kämpft Kartal seit Jahren um Anerkennung und Genehmigungen, aber er weiß wofür: „Das Mausoleum vereinte damals alle drei Kulturen persisch, griechisch und ägyptisch in einem Bauwerk. Das ist eine schöne Botschaft, gerade in der heutigen Zeit.“
Ein Weingut in Frauenhand
Während in Bodrum Stadt alle Zeichen auf Fortschritt und Modernisierung stehen, scheint die Zeit nur knapp 30 Kilometer entfernt stehen geblieben zu sein. Mit einem offenen Jeep geht es über holprige Pisten ins Landesinnere. Viele Bodrumer zieht es während der Sommermonate aufs Land. „Das Leben ist dort günstiger und ruhiger“, erzählt Reiseführer Ayden. Diese Ruhe und die Natur hat auch Selva Ismen vor Jahren hierher gelockt. Die zierliche Frau mit den wachen, blauen Augen kommt wie so viele Türken in Bodrum ursprünglich aus Istanbul. Dort betrieb sie mit ihrem Mann bis zu ihrer Rente erfolgreich ein Bauunternehmen.
Dann kehrte ihre Tochter aus New York in die Türkei zurück und sagte: Mama, du musst dir eine Beschäftigung suchen, sonst wirst du mich wahnsinnig machen, das weiß ich. Gesagt, getan: Anstatt zur Häkelnadel zu greifen, kaufte sich Selva Ismen, die ihr Alter mit 60Plus angibt, kurzerhand ein rund 16 Hektar großes Areal im Hinterland von Bodrum und eröffnete das erste Weingut der Region. Mit drei anderen Winzern baut sie Shiraz, Zinfandel und Cabernet an – und das erfolgreich.
Die Fässer werden mit klassischer Musik beschallt
Das Gut produziert 30 Tonnen pro Jahr und exportiert nach Deutschland und in die USA. „Ich bin eine Frau, ich bin Muslima und ich bin eine Winzerin“, sagt Ismen fast ein wenig trotzig. Die Fässer im Keller des Anwesens werden mit klassischer Musik beschallt, das soll dem Tropfen das gewisse Etwas verleihen. Aber wie schmeckt er nun, der erste Wein aus Bodrum? Die Winzerin selbst beschreibt ihn als „strong, bodied and with a long finish“. Also stark, vollmundig und mit einem langen Abgang. Wenn man es sich recht überlegt, wäre das ein viel passenderes Label für die Halbinsel zwischen hipp und Halikarnassos.
Tipps zum Trip Anreise: Aus mehr als einem Dutzend Städten (darunter Nürnberg, Frankfurt) gibt es Direktflüge, beispielsweise mit SunExpress, an die Ägäisküste. Preisbeispiele: Im Senses Hotel Bodrum kostet eine Woche im Doppelzimmer mit Frühstück und Flug ab 539 Euro pro Person bei FTI. Im Labranda TNT kommt eine Woche im Doppelzimmer bei All-Inclusive-Ultra-Verpflegung mit Flug auf 429 Euro pro Person bei FTI (www.fti.de). Mausoleum von Halikarnassos: In der Turgut Reis Cat.139 in Bodrum, Di-So 8-12 Uhr und 13-19 Uhr, Eintritt vier Euro. Kos-Tour: Die griechische Insel liegt nur eine halbe Stunde von Bodrum entfernt. Ganztägige Tour ab 34 Euro pro Person. Gümüslük, der kleine Küstenort im Westen von Bodrum lockt mit feinen Fischrestaurants wie dem Mimosa und einem bunten Markt. Mehr Informationen unter oder www.goturkey.com