Gabriele Priesemann steht hinter der Theke ihres Schlosscafés. Die Sechzigerin mit blondem Bob und voluminöser Halskette schneidet Kuchen auf, macht Kaffee. Ihr Mann Johannes schleppt Getränkekästen herein. Vor der Tür stürmt der Herbst. Der Gewölbekeller ist eine warme Höhle. "Priesemanns haben es geschafft Gemeinschaft und Kultur nach Adelsberg, in dieses kleine Nest, zu bringen", würdigt eine Adelsbergerin. Stammgäste belächeln Neulinge, die jetzt, und zwar sofort, ihre Bestellung aufgeben möchten. Hektik hat hier Hausverbot.

1979, Uni München: Er studiert Jura, sie Kunstpädagogik. Sie begegnen sich – "exakt am 1. Juni", betont er. 1981 heiraten sie. "Ich wusste lange nicht, was ich studieren sollte. Aber ich wusste: Mir gefällt nicht, wie wir unseren Planeten und uns als Menschen gegenseitig behandeln. Dagegen wollte ich etwas tun." Deshalb waren seine ersten Mandanten nach dem Studium Menschen mit Behinderung. Der junge Jurist vermittelt sie an Einrichtungen ihrer Wahl, unter anderem ins SOS Kinderdorf in Hohenroth bei Rieneck, einem Stadtteil von Gemünden.
Das stete Streben nach sozialer Gerechtigkeit
Seine Suche nach Gerechtigkeit treibt ihn. Er verfolgt friedensbewegte, soziale und ökologische Projekte; eines davon richtet sich gegen die Finanzierung von Atomraketen.
Es folgen Europäische Kommission und europäisches Währungsinstitut, heute EZB. Er begründet die dortige Gewerkschaft mit, ist Sprecher der Belegschaftsvertretung, dann Gewerkschaftsführer. "Die EZB kann ihre eigenen Arbeits- und Sozialgesetze machen. Das Renteneintrittsalter ihrer Arbeitnehmer verändern oder eine Lebenspartnerschaft nicht anerkennen. Das ist doch unglaublich, oder?" Daher schreibt er heute an seiner Dissertation zu diesen Vertragsbedingungen; und an der Familienchronik. "Das tue ich zur Entspannung".

Gabriele Priesemann: Puppenspielerin und freischaffende Künstlerin
Gabriele Priesemann und ihr Mann sind vom gleichen Schlag. "Dass man sich mit sozialer Gerechtigkeit beschäftigt hat, das war damals normal. Es war einfach die Zeit." Nach dem Studium wird sie Puppenspielerin, spielt zehn Jahre Marionetten und Stabpuppen. Sie gibt Kurse an der Kunstschule und arbeitet als freischaffende Künstlerin. Die Steinbildhauerei wird zu ihrer Ausdrucksform. Einige Skulpturen stehen heute im Schlosspark. "Wenn wir nett gefragt werden und Zeit haben, zeigen wir auch gerne unseren Garten."

Der Schlossherr trägt alte Jeans und blaue Windjacke, recht inzwischen stoisch das Laub zusammen. "Der Garten macht wahnsinnig viel Arbeit", sagt er, streckt sich und pflückt eine Frucht. "Doch für mich ist die Arbeit auch Meditation. Wenn ich im Garten bin, bin ich glücklich." Dabei leuchten seine Augen noch heller als die Quitte in seiner Hand.

Seine Frau stutzt derweil Sträucher zurecht, führt einen kurzen Plausch mit dem Nachbarn über die Schlossmauer. "Wir haben zu allen ein gutes Verhältnis. Auch wenn die Integration in unserem Alter nicht mehr so leicht ist. Das Leben in der Stadt ist viel einfacher", meint sie. Sie geben sich Mühe und nutzen die Angebote vor Ort. Sie singt im Gemündener Kammerchor und ist Mitglied im Lesekreis. Beide engagieren sich auch im Ökokreis Gemünden.

Die Vorteile von Entwurzelung
Jahrzehnte zuvor: Das Ehepaar hat vier Kinder, wechselt die europäischen Großstädte wie andere die Bettwäsche: München, Augsburg, Hamburg, Berlin, Moskau, Frankfurt. Ein schlechtes Gewissen bezüglich der Kinder? "Die Entwurzelung hat Vorteile. Sie weitet den Blick und macht Menschen offen für Neues." Johannes‘ Kindheit: Cuxhaven, Lübeck, Göttingen, Berlin, Kiel. "Ich fühle mich als Norddeutscher." Zu ihren Kindern und dem dreijährigen Enkel haben sie ein enges Verhältnis und werden oft besucht. "Platz genug haben wir ja."
Gerade das Leben im ständigen Fluss legte ironischerweise den Grundstein für ihren heutigen Wohnort. "Ich bin immer mit dem Zug zwischen Uni in München und Eltern in Kiel gependelt. Der Spessart ist die Landschaft aus den Märchen meiner Kindheit. Unterfranken ist eine Schatztruhe."

Ihren Schatz finden sie 2014: das Adelsberger Schloss. "Unsere Freunde erklärten uns für verrückt." Solch ein Mammut-Projekt starte man in ihrem Alter einfach nicht mehr. Immer wieder sagen sie nein zum Verkäufer, doch Johannes hat im Herzen schon entschieden. "Meine Frau hat aus Liebe zu mir ja gesagt." Auch, weil sie hier mehr Möglichkeiten hat. Ihre Frankfurter Kunst-Galerie bot nicht mehr genug Platz. Im "Dicken Turm" des Schlosses baut sie sich eine neue auf. Das Vogthaus machte sie zum Bed & Breakfast, den Gewölbekeller zum Café.

Gabrieles Offenheit gegenüber Menschen sperrt immer wieder Türen auf und führt sie in die Welt. "Damals in Frankfurt gab es Bauarbeiten an der Fassade des Hauses, in dem sich meine Galerie befand", erinnert sie sich. Ein albanischer Bauarbeiter stand damals außen auf dem Gerüst und sah in ihre Galerie. Er klopfte ans Fenster, erzählte von einem Freund daheim, der malt. Wochen später besuchten sie diesen Künstler in Albanien. Die Freundschaft hält bis heute an.
Nüsse: selbst geknackt; Torte: selbst gebacken
Knack ... knack ... knack. Die Schlossherrin sitzt im grauen Wollpulli auf einem antiken Hocker vor dem Kaminfeuer und knackt Walnüsse. Die Möbel: Erbstücke der Familie. Knack ... "Die Kuchen, die man kaufen kann, schmecken uns oft nicht so gut." Knack ... Die Schlosspark-Nüsse sind für ihre Engadiner Nusstorte, die später im Café stehen wird.

"Die Renovierung des Schlosses hat mich fast alle Nerven gekostet." Denkmalamt, Bauaufsicht, Suche nach Handwerkern, gestalterische Entscheidungen. Plötzlich schäumt etwas in ihr über: "Manchmal hätte ich am liebsten alles hingeschmissen! Eigentlich macht das alles doch nur Arbeit!" Das Kaminfeuer hält einen Moment den Atem an. Dann wendet sie sich wieder den Nüssen zu.
- Das könnte sie auch interessieren: In Gemünden erinnern ein betongrauer Koffer und ein Kinderrucksack an die Geschichte auch der Adelsberger Juden. Noch mehr davon erfahren Sie im Artikel "Viele Adelsberger Juden wurden deportiert".
- Über die Geschichte des Wappens am Adelsberger Schloss informiert der Artikel "Ein Kranich wacht am Schloss"
Ihr Temperament hat die Ehe gerettet. Einmal setzte sie ihm die Pistole auf die Brust. Die Situation: viel Arbeit und wenig Brot. "Entweder diese Stelle oder ich", drohte sie. Er gab den Job auf, arbeitete aber weiter zu viel. Sie schmiss alleine Haushalt, Arbeit und Kinder. Ihre älteste Tochter kümmerte sich um die Geschwister, während ihre Mutter Abendkurse an der Kunstschule Bad Vilbel gab. Die Ehe kriselte. Irgendwann platzte ihr der Kragen: "Ich will den Jakobsweg laufen."

Pilgern als Paartherapie
Der Trip wurde zur Paartherapie. Sie wanderten jedoch nur einen Tag. "Gabi wollte unbedingt in meinen Lufthansa-Plastiksocken laufen. Das gab Blasen," erinnert sich ihr Mann und wirft ihr einen schalkhaften Blick zu. Sie wechselten Wanderschuhe gegen Fahrräder. Über Jahre, in Etappen, meisterten sie gemeinsam die Strecke. Am Fuße der Pyrenäen kamen ihm die Freudentränen, "weil wir nach all den Jahren so etwas Schönes zusammen erlebten."
Heute kämpft sie sich auf dem selben Rad den steilen Berg zum Schloss hinauf. Schwarzer Stahlrahmen, 21 Gänge. Sie sitzt ab, schnauft, schiebt den Rest. Ein Auto hat sie erst seit ihrer Brüsseler Zeit. "Ich muss zum Arbeiten immer nach Frankfurt und mit viel Material. Das geht nicht mit der Bahn. Trotzdem ist es einfach nicht gut für die Umwelt. Aber Anhalter nehmen wir immer mit."

Ob sie im Schloss alt werden wollen? Schulterzucken. "Solange wir es machen, machen wir es gut. Wir wollen die einzigartige Schönheit, die dieser Ort hat, anderen Menschen zugänglich machen."
Eher Bedauern als Neid
Neider? "Eigentlich werden wir eher bedauert", lachen die Priesemanns, "weil es so viel Arbeit macht und eine Menge Geld verschlingt." Die nötigsten Sanierungsarbeiten haben sie in den letzten Jahren ausführen lassen. "Doch das hört nie auf. Eigentlich steht jetzt noch eine ökologische Sanierung an."

Ob sie sich als wohlhabend sehen, so als Schlossherren? "Wir haben unser Leben lang gearbeitet, nie ein Konsumentenleben geführt, teure Urlaube gemacht oder in Saus und Braus gelebt. Das hat sich für uns einfach nicht richtig angefühlt. Dafür können wir uns jetzt um dieses Schloss kümmern."
Samstagabend. Das Café ist jetzt eine Kneipe. Der Schlossherr sitzt am Stammtisch, Lesebrille auf der Nase, einen englischen 1500-Seiten-Wälzer vor sich. "Ach, wieder so eine idealistische Abhandlung über Gerechtigkeit?!", frotzelt jemand. Der Schlossherr lächelt milde. "Ein Weizen, wie immer?" Manchmal trinkt er eins mit.