Im Winter 1944 ist der Krieg plötzlich da. Nach all den Jahren abseits der Front muss Martha Otto (Name von der Redaktion geändert) plötzlich weg aus Wylatkowo. Gemeinsam mit ihrer Mutter und den zwei Schwestern stopft die Zwölfjährige das Nötigste auf einen Bollerwagen. Eine kleine Laterne ist das einzige, was bei -25 Grad Celsius Wärme spendet, als sie im Tross mit ihren Nachbarn raus in den unbarmherzigen polnischen Winter ziehen. Die Mutter hält Marthas kleine Schwester in den Armen, sie ist erst zwei Jahre alt, immer in Richtung des Ziels: der deutschen Grenze. Diese sollten sie aber erst Jahre später erreichen.
Die junge Martha Otto hatte damals keine Vorstellung von den Ausmaßen des Krieges. Heute weiß es die 86-Jährige besser. Sie sitzt in der Redaktion und freut sich darüber, dass sich Menschen für ihre Geschichte interessieren. Ihren Namen will sie trotzdem lieber nicht in den Medien lesen. Marthas Haare sind inzwischen grau geworden, das Alter hat Furchen durch ihr Gesicht gezogen. Wenn sie geht, braucht sie einen Stock. Trotzdem sind ihre Erinnerungen auch 75 Jahre später sehr präsent. Nur in paar Mal muss sie innehalten und über die Reihenfolge der Ereignisse nachdenken.
Ein Schuss beendete die Flucht
Viele Zusammenhänge hat Martha Otto erst nach ihrer Flucht verstanden, auch, warum sie überhaupt fliehen mussten. Die Herrschaftsverhältnisse in Wylatkowo, zu deutsch: Waldfelden, wechselten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ziemlich oft. Vor dem Ersten Weltkrieg war das Gebiet deutsch, danach polnisch. Nach dem Überfall der Wehrmacht 1939 bekam die Gegend wieder einen deutschen Namen. Die Nazis vertrieben die polnische Bevölkerung. Die, die bleiben durften, hatten unter massiver Unterdrückung zu leiden. All das geschah vor den Augen der deutschen Bewohner, zu denen auch die Familie Otto gehörte. Deshalb machte sich 1944 die übrig gebliebene deutsche Bevölkerung auf den Weg nach Deutschland – aus Angst vor der Vergeltung der Sowjets und Polen für das Leid, das die Deutschen verursacht hatten.
Zurück im Jahr 1944. Kurz vor der heutigen deutschen Grenze holt die Rote Armee Marthas Tross ein. Die Zwölfjährige hat Angst, sie bleibt jedoch ruhig. Anders als ihre Freundin, die unbedingt raus aus Polen will. Das Mädchen steht auf, fängt an zu laufen. Ein Schuss zischt durch die Luft. Marthas Freundin sinkt mit einem Schrei zu Boden. Sie hält sich den Oberschenkel. Der Schnee unter dem Bein färbt sich blutrot.
Das Leid wurde zum ständigen Begleiter
Sie seien mitten in der Front gewesen, erzählt Martha Otto heute. Ein Entkommen in Richtung Westen schien aussichtslos. Also ging die Familie wieder zurück. Die erste Nacht verbrachten sie in einem kleinen Dorf. Martha erzählt, wie sie in den Stall kam, in dem die Familie schlief: "Mutti, schau mal! Was ist da? Lauter Rohre!" Noch heute wirkt sie an dieser Stelle aufgeregt. Die Rohre waren russische Panzer, die sich auf auf den Anhöhen rund um die Gemeinde versammelt hatten. Ein Schuss aus dem Dorf in Richtung der Roten Armee und sie würde heute nicht hier sitzen, ist sich Martha sicher.
Auf dem Weg zurück nach Wylatkowo wurde das Leid zum ständigen Begleiter. Die Soldaten zerrten Frauen aus den Häusern, erinnert sich Martha Otto. "Meine Mutter hat ihnen wohl nicht gefallen. Sie war im Gesicht sehr von den Strapazen des Krieges gezeichnet." Die Straßen, sofern man sie als solche bezeichnen konnte, waren gesäumt von Leichen ganzer Familien. Erfroren, verhungert, ermordet. Ein erschossener deutscher Soldat wurde an einem Wegweiser demonstrativ abgesetzt, erinnert sich Martha noch genau an das entstellte Gesicht. Irgendwie normal sei dieser Anblick gewesen, nach Hunderten Toten härte man ein Stück weit ab, erzählt sie.

Professor Matthias Stickler ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Würzburg. Er sagt: Insgesamt verloren in Folge des Zweiten Weltkriegs 14 Millionen Deutsche ihr Zuhause. Wie viele als Folge von Flucht und Vertreibung ums Leben kamen, ist umstritten. "Gesichert kann man allerdings von mindestens 500 000 Todesopfern ausgehen", sagt Stickler. Andere Schätzungen gehen von bis zu zwei Millionen Toten aus.
Martha Otto überlebte, begann, gezwungenermaßen, auf dem Aussiedlerhof einer polnischen Familie zu arbeiten. Sie ist sich sicher, es war die erste Septemberwoche 1945. Schließlich feierte sie genau eine Woche danach ihren 13. Geburtstag. Heute scherzt sie, dass das Fest doch recht klein ausgefallen sei. Täglich arbeitete sie von nun an auf dem Bauernhof, half etwa bei der Kartoffelernte. "Ihr müsst für euren verursachten Schaden aufkommen, deshalb arbeitet ihr umsonst", soll die Bäuerin zu ihr gesagt haben.
Mit großem Unverständnis las die 86-Jährige daher, dass Polen vor Kurzem Reparationen in Höhe von 800 Milliarden Euro forderte. Viele Männer, Frauen und Kinder deutscher Herkunft seien jahrelang zur Arbeit gezwungen worden, ohne Geld zu bekommen, ohne Rechte zu haben, sagt sie. Der Würzburger Historiker Stickler bestätigt, dass die Siegermächte Zwangsarbeit von Deutschen durchaus als eine Form der Kriegsentschädigung betrachtet hätten. Auch seien als Folge des Potsdamer Protokolls circa 20 Prozent des deutschen Staatsterritoriums mit dem dort zurückbleibenden Eigentum der deutschen Bewohner an Polen übergegangen, sagt der Professor. Bei der neuen Forderung gehe es eher um die innenpolitische Profilierung der rechtspopulistischen PiS-Regierung. "Angesichts der Tatsache, dass Polen nach 1949 mehrfach gegenüber Deutschland auf Reparationsforderungen verzichtete und Deutschland insgesamt 2,5 Milliarden Deutsche Mark an Entschädigungszahlungen leistete, ist das Thema völkerrechtlich und moralisch erledigt", sagt Stickler.
"Man kann sich ja gar nicht vorstellen, wie schlimm das ist als Flüchtling. Nirgends ist man erwünscht, geschweige denn Zuhause."
Martha Otto, Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg
Anmaßend findet Martha Otto die neuerlichen Forderungen trotzdem und erzählt von ihrer Zeit in Zwangsarbeit. Nach einem Jahr auf besagtem Hof wurde sie so krank, dass sie für den Bauern nutzlos wurde. Man hielt bereits Gottesdienste, um für ihr Überleben zu beten. Erst als ein polnischer Landwirt der Familie heimlich ein Ferkel schenkte, das diese verkaufte, konnte sich Martha einen Besuch beim Arzt leisten. "Letztendlich hat der Bauer mir das Leben gerettet", sagt sie heute.
Während es Martha langsam besser ging, wurde es für ihre Mutter immer schlimmer. Im September 1947 genehmigten die Behörden den Ausreiseantrag der Familie in Richtung Deutschland. Unter Tränen schildert Martha Otto heute, wie ihre Mutter nach dieser eigentlich guten Nachricht in das oberste Stockwerk des Hauses rannte. Oben angekommen, kletterte sie auf das Dach und war kurz davor zu springen. Zu viel war in den letzten Jahren passiert. Sie habe keine Kraft mehr gehabt, die nächste beschwerliche Reise anzutreten, erzählt Martha. Die drei Schwestern und ein Nachbar folgten verzweifelt der Mutter auf das Dach. Sie brauchten sie doch, wie hätten sie ohne ihre Mutter weiter überleben sollen, sagt Martha heute. Nach quälend langen Minuten stieg ihre Mutter endlich nach unten.
Enttäuschte Hoffnung: Arbeitslager statt Ausreise
Aber anstatt der erhofften Ausreise nach Deutschland ließen die polnischen Behörden die Familie in überfüllten Viehwaggons in ein Arbeitslager nahe der Stadt Lissa bringen. Zwei Jahre musste die jetzt 15-jährige Martha hart arbeiten. Einmal, erinnert sie sich, räumten die Zwangsarbeiter einen Friedhof. Auf dem Weg bewarfen sie die Bewohner des Dorfes mit rohen Eiern und beschimpften sie.
Geschichtsprofessor Stickler kennt die Haftbedingungen in solchen Arbeitslagern gut. Sie waren extrem hart, rund 200 000 Deutsche sollen nach 1945 in polnischen und sowjetischen Internierungslagern ums Leben gekommen sein, schätzt der Historiker. In diesem trostlosen Alltag freute Martha sich über jede Abwechslung. Eines Tages zum Beispiel, erinnert sie sich, bekam sie zur Belohnung einen Salatkopf geschenkt. In Zeiten, als die tägliche Nahrung aus etwa 100 Gramm Kartoffelbrot und meist einer Suppe bestand, war das ein Festmahl.
Nach Jahren der Zwangsarbeit plötzlich wieder Schulunterricht
Im Jahr 1949 war es dann endlich so weit. Die lange ersehnte Ausreise wurde genehmigt und die drei Schwestern machten sich mit ihrer Mutter auf den Weg Richtung Berlin. Als Vertriebene aus Polen kamen sie vorerst bei einem Großbauern in der Nähe Berlins unter. Martha, nun 17 Jahre alte, war erneut in der Landwirtschaft tätig, bekam allerdings erstmals einen Lohn. 40 Deutsche Mark. "Immerhin", sagt sie. Dennoch meinte es der Landwirt nicht gut mit der Familie. Nach einem Arbeitsunfall, bei dem die Mutter schwere Kopfverletzungen davon trug und zu verbluten drohte, setzte er die vier Frauen auf die Straße. Erst ein Nachbar brachte die Mutter in ein Krankenhaus.
1950 dann kam die Familie nach Mahlow in der ehemaligen DDR. Für Martha und ihre Schwestern begann dort nach über fünf Jahren ohne Schule wieder das Lernen, sie durften den Unterricht beim ortsansässigen Pfarrer besuchen. Er war es auch, der ihr eine Ausbildung zur Desinfektorin ermöglichte. Nach ihrem Abschluss verdiente sie zum ersten Mal genug Geld für ein selbstbestimmtes Leben.
Von der DDR in die Bundesrepublik Deutschland
Sehr glücklich sei sie damals gewesen, sagt Martha Otto. Ihr Glück wurde vorerst perfekt, als sie 1952 ihren zehn Jahre älteren, späteren Ehemann kennen lernte. Er stammte ebenfalls aus ihrer Heimat, war nach sieben Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft gerade erst in Deutschland angekommen. Die beiden heirateten, ein Jahr später kam bereits das erste von drei Kindern zur Welt. Die junge Familie zog nach Klein-Kienitz, ebenfalls in der ehemaligen DDR, wo die Schwiegereltern einen landwirtschaftlichen Betrieb aufbauten. Es hätte alles so schön sein können.

1952 aber zwang die DDR alle bäuerlichen Betriebe sich in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zusammenzuschließen. Martha Ottos Familie weigerte sich. Als die Stasi dahinter kam, drohte der Familie Zwangshaft, schon wieder. Und schon wieder musste Martha von heute auf morgen ihr altes Leben verlassen und in eine ungewisse Zukunft fliehen.
Martha Otto lebt bis heute in ihrem Haus in Marktheidenfeld
Nach ein paar Tagen in einem Auffanglager für Ost-Flüchtlinge in Berlin-Marienfelde, durfte die Familie zu Verwandten nach Hammelburg ausreisen. Aufgrund der Erfahrungen ihres Mannes in einer Molkerei, zog Marthas Familie 1959 weiter nach Marktheidenfeld (Lkr. Main-Spessart). Dort arbeitete ihr Mann in der Molkerei.
Die junge Familie lebte zunächst in einem Flüchtlingsquartier in Triefenstein, dann zur Miete und schließlich baute sie ein Haus in Marktheidenfeld, in dem Martha Otto bis heute lebt. Sie ist froh eine feste Heimat gefunden zu haben. "Man kann sich ja gar nicht vorstellen, wie schlimm das ist als Flüchtling. Nirgends ist man erwünscht, geschweige denn Zuhause", sagt sie über die damalige Zeit. Trotzdem würde sie noch einmal gerne ihre alte Heimat besuchen.