Vor einem Jahr wurden in Fulda bei der Herbst-Vollversammlung der Bischöfe die Ergebnisse der sogenannten Missbrauchsstudie vorgestellt. Seither läuten die Glocken in der katholischen Kirche immer wieder Sturm. Zig Veranstaltungen beschäftigten sich in den vergangenen Monaten mit dem Thema sexualisierter Gewalt, eine der ersten Podiumsdiskussionen fand mit Bischof Franz Jung in Würzburg statt. Es gab zudem interne Bischofsrunden, in denen Maßnahmen festgelegt wurden. Dazu gehört das Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt (IPA), das jetzt im Bistum Köln seine Arbeit aufnimmt. Zudem wurden weitere Missbrauchsstudien auf Bistumsebene angekündigt, zuletzt in Essen. Die Bewegung "Maria 2.0" sorgt seit Monaten dafür, dass das Thema "Geschlechtergerechtigkeit" Aufmerksamkeit erhält. Der "synodale Weg" wurde auf den Weg gebracht - und postwendend aus Rom kritisiert. Unter anderem darüber, aber auch über den Stand der Aufklärung und Aufarbeitung beim Thema "Sexueller Missbrauch" diskutieren die Bischöfe, die sich ab Montag, 23. September, wieder in Fulda zur Vollversammlung treffen.
Wie geht es weiter? Wie könnte es weitergehen? Der Würzburger Theologe Wunibald Müller, seit Jahren ein unermüdlicher Mahner, analysiert das "Jahr 1" nach Bekanntwerden des Ausmaßes der sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche.
Frage: Herr Müller, ist die katholische Kirche auf einem guten Weg?
Wunibald Müller: Die katholische Kirche hat nicht erst seit der Missbrauchsstudie, sondern in den vergangenen 20 Jahren dazugelernt. Heute steht das Opfer im Mittelpunkt und nicht mehr nur das Ansehen der Kirche. Das Leid der Betroffenen wird gewürdigt. Aber das hat sehr lange, ja zu lange gedauert.

Harald Dreßing vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Leiter des Forschungsprojekts zur Missbrauchsstudie, wiederholt ständig: Die Ergebnisse würden nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Ist die Situation also doch nicht so positiv, wie Sie meinen?
Müller: Die Studie hat bestätigt, was ich seit Jahren zu Thema Zölibat, Homosexualität, Klerikalismus und zum Ausmaß an sexuellem Missbrauch in der Kirche sage. Zum Teil nimmt die Studie, deren Forscher ich zwischendurch auch beraten habe, Bezug auf mich. Daher auch meine Ungeduld, was die Umsetzung weitergehender Konsequenzen angeht. Und es ist doch bestürzend, wenn mir Harald Dreßing, der Leiter der Studie, vor wenigen Wochen mitteilt, dass es keinen Hinweis dafür gibt, „dass sich seit 2009 die Quote beschuldigter Priester signifikant verringert hat", und sich nach wie vor neue Fälle ereignen. Die Reaktion der Kirche darauf bezeichnet Harald Dreßing mir gegenüber als fatal: "Man preist die Prävention und behauptet es sei alles ein Problem vergangener Zeiten, was leider nicht stimmt." Das lässt aufhorchen.
War Ihr Lob also voreilig?
Müller: Meinem gerade geäußerten Lob folgt also auch Kritik: Noch greifen die Maßnahmen nicht, auch weil die weitergehenden Konsequenzen, die sich aus der Missbrauchskrise ergeben, nicht gezogen werden. Dazu gehört unter anderen die Abschaffung des Pflichtzölibats, eine positive Einstellung zu Homosexualität und schwulen Priestern. Wir wissen das alles schon seit vielen Jahren und es geschieht nichts.
Was erwarten Sie von den Bischöfen, die sich jetzt in Fulda auf ihrer Herbst-Vollversammlung weiter mit dem Thema Missbrauch beschäftigen?
Müller: Ich erwarte ein Zeichen, dass deutlich macht, dass die Bischöfe nicht länger im alten Trott verharren. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Die Bischöfe ziehen nicht hierarchisch geordnet in den Fuldaer Dom ein. Sie tragen nicht ihre übliche Bischofskleidung, auch nicht das Brustkreuz. Sie tragen alle eine Albe aus weißem Leinen. Mit ihnen ziehen Arm in Arm die Frauen aus dem unterfränkischen Forst ein, die vor kurzem am Reden in ihrer Kirche gehindert wurde und das für einen Eklat gesorgt hat. Auch die Frauen tragen wie die Bischöfe eine Albe, die das Taufgewand symbolisiert und an das königliche Priestertum erinnert, das allen Getauften zugesprochen worden ist. Die traditionelle Predigt hält nicht Kardinal Marx, sondern die ehemalige Ordensfrau Doris Reisinger, die sexuell und spirituell im kirchlichen Kontext missbraucht wurde.
Schöne Bilder. Welche Erwartung könnte sich längerfristig tatsächlich erfüllen?
Müller: Dass die Bischöfe endlich nachholen, was sie bisher versäumt haben. Sie sehen sich als Nachfolger der Apostel, von denen es im Neuen Testament heißt: „Keiner von euch kann mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet“. Die Verbindung von Amt und Armut ist zwar ein Thema der Bibel, wird aber von der Kirche nicht ernst genommen. Es sei denn, die deutschen Bischöfe machen hier einen Schnitt und beschließen, in Zukunft auf ein Viertel ihres monatlichen Gehaltes zu verzichten und dieses Geld einer Stiftung zukommen zu lassen, die sich um die Belange von Missbrauch betroffenen Opfern kümmert. Zum Beispiel die Gründung eines Hauses, das vergleichbar dem Recollectio-Haus in Münsterschwarzach sich um die spirituelle und psychotherapeutische Begleitung von Opfern sexualisierter Gewalt kümmert.

Sie sagten eingangs, Ihnen gehe alles viel zu langsam. Sie fordern schon länger die Weihe von Frauen. Würzburgs Bischof Franz Jung sagte, er könne die Ungeduld der Frauen verstehen, mit schnellen Lösungen sei aber nicht zu rechnen.
Müller: Das sehe ich anders. Frauen sollten ungeduldig bleiben. Die Verbindung von Amt und Geschlecht ist kein Thema der Bibel, wird aber von der Kirche zum Thema gemacht und hat dazu geführt, dass Frauen vom Priesteramt ausgeschlossen werden. Es ist ein himmelschreiendes Unrecht, wenn es dabei bleibt. Im Mann und in der Frau schuf Gott sein Ebenbild. Gott leidet darunter, dass nur eine Seite von ihm im Priestertum repräsentiert wird und sehnt sich zutiefst danach, dass diese strukturelle Sünde der Kirche endlich behoben wird.
"Wir werden nicht müde, sie aus ihrem Schlaf zu wecken."
Theologe Wunibald Müller über einige Bischöfe.
Die Bischöfe sind sich uneins, ob das eine "strukturelle Sünde" ist.
Müller: Einige verharren eben im alten klerikalen Denken. Der Regensburger Bischof Voderholzer oder Kardinal Woelki aus Köln sollten erkennen, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Diejenigen, die versuchen, uns zu beschwichtigen und meinen, uns daran erinnern zu müssen, dass wir uns Zeit lassen und die Dinge weltkirchlich betrachten sollten, es letztlich doch um die Gottesfrage ginge und so weiter und so fort, diejenigen versuchen wir zum einen in Liebe zu ertragen. Zum anderen aber werden wir nicht müde, sie aus ihrem Schlaf zu wecken und sie wissen zu lassen, dass wir ihren Nachhilfeunterricht nicht nötig haben.
Bestärkt nicht die Kritik aus Rom gegen den deutschen Reformprozess "Synodaler Weg" klerikales Denken?
Müller: Jetzt zeigt sich, ob die deutschen Bischöfe wieder einmal kneifen, wenn der Vatikan die Muskeln spannt. Oder aber, ob sie zu dem synodalen Prozess stehen, der ja zugegebenermaßen nicht der große Wurf ist, und diesen Weg zusammen mit den Laien gehen wollen. Kuschen unsere Bischöfe, offenbaren sie, dass sie es immer noch nicht verstanden haben, dass es hier um nichts weniger als den letzten Versuch geht, ein wenig an Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Zugleich wird deutlich, dass die verheerende Situation, in der sich die katholische Kirche augenblicklich befindet, dem klerikalen System geschuldet ist und die Kirche hier erst dann eine Chance hat, sich zu erneuern, wenn diese Struktur zusammenbricht. Eine Struktur, hinter der Machtinteressen, nicht aber die Liebe steht, die Gott selbst ist. Es ist an der Zeit, dass die Verantwortung für die Kirche von allen Getauften wahrgenommen, die Macht in der Kirche untereinander aufgeteilt und die unselige Trennung da die Kleriker, dort die Laien, überwunden wird.
Die Laien halten ihre Hände schon lange offen.
Müller: Deshalb sollten wir Frauen und Männer und auch nicht länger von den Bischöfen davon abhalten lassen, an der Gestaltung einer Kirche mitzuwirken. Wir stehen den Brüdern im bischöflichen Amt solidarisch zur Seite, die mit uns den Weg der Netzwerkbildung gehen wollen. Ich gehe davon aus, dass auch der Bischof von Würzburg dazugehört, auch wenn ich ihn manchmal noch als zu zögerlich erlebe.

Bischof Jung sprach kürzlich von "Selbstzerfleischung" in der Kirche.
Müller: Das sehe ich nicht so. Miteinander streiten und Konflikte auszutragen – endlich auch unter den Bischöfen - muss nicht gleich Selbstzerfleischung sein. Und finde es zudem unklug, wenn er zudem von Hysterie spricht und meint, es werde ein unnötiger Zeitdruck aufgebaut in Bezug auf langfristige Änderungen. Wir haben nicht noch einmal 20 Jahre Zeit. Ich weiß sehr wohl, dass nicht alles von heute auf morgen möglich ist. Es genügt aber nicht zu sagen: Bei diesen komplexen Fragen können wir nur gesamtkirchlich entscheiden. Da erwarte ich von ihm mehr „Biss“ und Entschiedenheit, sich für Veränderungen einzusetzen.
Was finden sie gut an Bischof Jung?
Müller: Gut finde ich, wie sich der Würzburger Bischof Missbrauchsopfern gegenüber verhält. Er geht endlich auf sie zu. Klerikales Gehabe ist ihm fremd. Diesbezüglich unterscheidet er sich wohltuend sehr von seinem Vorgänger. Und es gefällt mir, dass er zu den Bischöfen gehört, die sich nicht generell gegen Veränderungen stemmen, dass er zum Beispiel bereit ist, Homosexuelle zu Priestern zu weihen.
Was könnte die Veränderungen schneller herbeiführen?
Müller: Leidenschaftlichkeit, eine Vision. Und Mut, mal auf den Tisch zu hauen gegenüber Rom. Das hat der Mainzer Kardinal Karl Lehmann erst mit 80 Jahren eingestanden. Viel zu spät.

Wird Ihre große Ungeduld auch in Ihrem Buch deutlich, das im Frühjahr 2020 im Würzburger Echter-Verlag erscheint?
Müller: Das drückt sich bereits im Titel aus: "Wacht endlich auf und kehrt um. Notwendige Konsequenzen aus der Missbrauchskrise". Ich möchte aufrütteln und weitergehende Konsequenzen aufzeigen, die sich aus der gegenwärtigen Krise ergeben. Auch will ich damit einen Beitrag leisten, miteinander und nicht gegeneinander daran zu arbeiten, dass die Glaubwürdigkeit der Kirche wieder hergestellt werden kann und die Gläubigen wieder in der Kirche einen Ort finden, an dem sie und in dem sie eine spirituelle Heimat finden.
Deshalb sind Sie, obwohl im Ruhestand, noch immer viel unterwegs.
Müller: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass inzwischen viele, auch Verantwortliche in der Kirche, darunter Bischöfe, meine Arbeit schätzen, mich einladen und auf mich hören. Ich kenne aber auch die Erfahrung, um es biblisch auszudrücken, dass der Prophet im eigenen Land oder auch in den eigenen Reihen oft eher gefürchtet und gemieden, denn geschätzt und gehört wird.
Wunibald Müller Der katholische Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller, geboren 1950 in Buchen (Odenwald), war von 1991 bis 2016 Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach. Die Einrichtung, die auf Initiative von Müller entstanden ist, versteht sich laut eigenen Angaben als ein Angebot für Priester, Ordensleute und Mitarbeiter in der Seelsorge sowie spirituell Interessierte, die sich in einer Krise befinden, innehalten und neue Kraft schöpfen möchten. In Vorträgen, aber auch in seinen vielen Büchern, meldet sich Wunibald Müller immer wieder zu Wort. Zuletzt erschienen sind zum Beispiel "Loslassen und weitergehen" (Patmos), "Der Letzte macht das Licht aus?" (Echter) oder "Warum ich dennoch in der Kirche bleibe" (Kösel). (CJ)