Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken (GcjZ) gibt es seit 60 Jahren. Eine "wichtige Säule" von Beginn an: die Erinnerungskultur. Doch die Zeitzeugen verschwinden. Wie wird dies das Erinnern verändern? Wird angesichts des Kriegs in der Ukraine ein neues Kapitel der Erinnerungskultur aufgeschlagen?
Der katholische Hochschulpfarrer Burkard Hose, die jüdische Musikwissenschaftlerin Regina Kon und der evangelische Dekan Wenrich Slenczka bilden den Vorstand der Gesellschaft. Ein Gespräch über den Kern ihrer Arbeit - und über sich wiederholende Muster in der Geschichte.
Herr Hose, Sie engagieren sich seit Jahrzehnten in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Was waren Ihre Beweggründe?
Burkhard Hose: Vor 35 Jahren wurde ich als Theologiestudent im ersten Semester auf die Gesellschaft aufmerksam. Zu dieser Zeit wurden die jüdischen Grabsteine in der Würzburger Pleich entdeckt. Unter Anleitung des damaligen katholischen Vorsitzenden der Gesellschaft, Professor Karlheinz Müller, säuberten wir sie. Er verdeutlichte uns Studierenden, dass historisches Interesse an so einem Fund wichtig sei. Bedeutung im eigentlichen Sinn bekomme die Begegnung mit der Tradition aber erst durch die Bezugnahme auf die eigene Gegenwart. Müller unternahm mit uns Ausflüge zu Orten jüdischen Lebens. Wir lernten Mitglieder der jüdischen Gemeinde kennen.
War das Ihr erster Kontakt mit Jüdinnen und Juden?
Hose: Ich war als damals 20-Jähriger noch nie bewusst einer Jüdin oder einem Juden begegnet – nur in Büchern und im Geschichtsunterricht. Jüdisch zu sein war für mich etwas Exotisches und sehr reduziert auf die Shoah. Das hat sich durch die Mitarbeit in der Gesellschaft verändert. Einer unserer Kernsätze lautet: Es ist besser mit Juden als über Juden zu reden.

Was ist der Gesellschaft noch wichtig?
Hose: Erinnerungskultur ist eine wichtige Säule. Veranstaltungen drehen sich deshalb um bestimmte Jahrestage. Etwa der 27. Januar, der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Unsere zweite Säule ist die konkrete Unterstützung der jüdischen Gemeinde in Würzburg. Und ein Kernanliegen ist die Begleitung und Unterstützung des jüdischen Museums im Gemeindezentrum Shalom Europa. Wir wollen nach wie vor jüdisches Leben vermitteln und sichtbar machen.
Regina Kon: Ich weiß, dass es in anderen Städten und christlich-jüdischen Gesellschaften keine Treffen mit der jüdischen Gemeinde gibt. Oft ist die russische Sprache ein Hindernis. Viele jüdische Menschen kamen in den 1990er Jahren ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland. In Würzburg gibt es ebenfalls Sprachbarrieren, aber auch Gemeindemitglieder, die übersetzen können.

Es gibt Stimmen, die sagen, es soll Schluss sein mit dem Erinnern. Gleichzeitig nimmt der Antisemitismus in Deutschland zu.
Kon: Niemand von uns hätte vermutet, dass dies passiert. Unsere Gemeindemitglieder beschäftigt das sehr. Ende der 1940er und Anfang der 50er Jahre war die deutsche Sprache gleichbedeutend mit Verfolgung, Vernichtung und Krieg. Jetzt gibt es wieder diese Bedrohung.
"Manchmal hat ich das Gefühl, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Geschichten."
Burkhard Hose, Leiter der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg
Hilft Erinnerungskultur Antisemitismus zu vermeiden?
Kon: Für mich ist die Erinnerungskultur das Wichtigste. Es ist nicht einfach, diese dunkle Seite der deutschen Geschichte immer zu erwähnen. Aber ohne dieses Erinnern geht es nicht.
Wenrich Slenczka: Es geht nicht nur darum, an Vergangenes zu erinnern, als sei es nicht mehr da. Sondern es geht darum, die Verantwortung in der gegenwärtigen Gesellschaft wahrzunehmen. Das zeigt gerade dieser Krieg in der Ukraine.
Hose: Zur Erinnerung an Menschen, die in der Shoah ermordet worden sind, gehört auch, dass wir als Gesellschaft aufmerksam sind, wo sich Muster wiederholen. Die Geschichte an sich wiederholt sich ja nicht. Gerade in jüngster Zeit merken wir, wie wichtig das Beobachten ist: Wann fängt es an, brisant, gefährlich zu werden? Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano kritisierte immer die Aussage: "Wehret den Anfängen!" Sie sagte: "Wir sind mittendrin in den Anfängen!" Mit diesem Satz wollte sie darauf aufmerksam machen, dass es einen Rechtsruck in der Gesellschaft gibt.

Lässt dieser Rechtsruck befürchten, dass sich Geschichte doch wiederholen könnte?
Kon: Als ich von Moskau nach Würzburg kam, habe ich mich mit der deutsch-jüdischen Geschichte auseinandergesetzt. Bei einer Veranstaltung im Gemeindezentrum habe ich dann zum ersten Mal eine Frau erlebt, die als Kind unter den Nationalsozialisten schrecklichen Erfahrungen machen musste. Und jetzt flüchteten sogar Holocaust-Überlebende aus der Ukraine nach Deutschland.
Hose: Die Erinnerungskultur, die stark auf die Erfahrungen in der Shoah konzentriert war, hat sich in den 90er Jahren verändert mit den Menschen, die aus den ehemaligen Sowjetstaaten hierhergezogen sind. Sie haben ihre eigenen Erfahrungen mit Verfolgung, Antisemitismus, Ermordung. Und jetzt kommen Menschen aus der Ukraine zu uns, die ihre Erfahrungen mitbringen. Manchmal habe ich das Gefühl, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber die Geschichten.
Slenczka: Was im nationalsozialistischen Deutschland passiert ist, ist eine einmalige Sache. Erinnerungskultur dient im Grunde genommen der Wahrnehmung: Wir sind Menschen, die zu sowas Schrecklichem fähig sind. Ich muss mich ja selber fragen: Was hätte ich vor über 80 Jahren gemacht? Bin ich etwa ein besserer Mensch? Mahnmale erinnern nicht nur. Sie sagen mir: Pass auf, du bist ein Mensch!
Kon: Es gilt, durch die Erzählungen und durch das Erinnern die menschliche Würde herzustellen, dieses Wissen aufzunehmen und sich auszutauschen.
"Mahnmale erinnern nicht nur. Sie sagen mir: Pass auf, du bist ein Mensch!"
Wenrich Slenczka, Dekan im Dekanatsbezirk Würzburg
Es gibt immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Shoah. Aber neue aus der Ukraine.
Slenczka: Es ist nicht leicht für jemanden zu erzählen, wie man selber ein Opfer von Gewalt und Hass geworden ist. Es gibt viele Erlebnisberichte, die erst Jahrzehnte später erschienen sind. Weil Leute es so lange nicht geschafft haben, darüber zu reden. Nicht einmal in der eigenen Familie. Ich nehme an, das wird jetzt auch wieder so sein, dass die Menschen, die jetzt Furchtbares erleben, lange nicht in der Lage sein werden, darüber zu reden.

Wird sich die Erinnerungskultur verändern?
Slenczka: Ich war vor Würzburg in Weiden tätig. Dort hat man in der Gedenkstätte Flossenbürg Angehörige von Zeitzeugen eingeladen, die aus ihrer Sicht erzählen sollten. Das ist natürlich etwas anderes als unmittelbare Zeitzeugen. Wir werden aber weiterhin Möglichkeiten für Begegnungen schaffen. Auch wenn das künftig Veranstaltungen sein werden, in denen man über jemanden erzählt oder referiert.
Hose: Wir suchen nach angemessenen und wandelnden Formen der Erinnerung und wollen mit jungen Leuten Projekte machen. Der "Denkort Deportation" am Würzburger Hauptbahnhof zeigt, was sich in der Erinnerungskultur bereits gewandelt hat. Dahinter steht ein pädagogisches Konzept.
Kon: Hinter den Stolpersteinen auch.
Hose: Die Stolpersteine sind wichtige gegenständliche Mahnmale. Ich erlebe aber ein verstärktes Mitmachen und Wahrnehmen. So haben junge Leute am 9. November zum Putzen von Stolpersteinen aufgerufen, etwa die Grüne Jugend. Sie positionieren sich in der Gegenwart.

Wie sehen Ihre Ideen für Projekte mit jungen Menschen aus?
Hose: Mir wird immer mehr das Beziehungsgeschehen bei der Erinnerungsarbeit bewusst. Wie gestaltet sich das, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Etwas verkitscht fand ich das Instagram-Projekt zu Sophie Scholl, das junge Leute ansprechen sollte. Ihre Interpretation ist ja anders als die Originalperspektive. Trotzdem war es für mich ein interessanter Versuch Kommunikation und Beziehung herzustellen.
"Für meine Nachbarn im Haus ist es nicht so wichtig, dass ich Jüdin bin."
Regina Kon, jüdische Vorsitzende der GcjZ
Wie wollen Sie Beziehung herstellen?
Hose: Wichtig ist dabei das Emotionale, nicht nur das Kognitive. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen waren bei unseren Veranstaltungen immer daran interessiert, auch die ganz alten, in die Gegenwart hineinzuwirken. Also nicht nur von sich zu erzählen. Das habe ich wahrgenommen, bei Eva Fahidi oder Esther Bejarano. Sie wollten junge Leute treffen. Es gab eine starke Verbindung zwischen den ganz alten und ganz jungen Leuten. Das hat mich fasziniert. Bald müssen wir neue Wege finden.

Ist jüdisches Leben in unserer Gesellschaft ein Stück weit Normalität geworden?
Kon: Für mich war es als Jüdin normal nach Deutschland zu gehen. Und für meine Nachbarn im Haus ist es nicht so wichtig, dass ich Jüdin bin. Ich wohne dort seit 20 Jahren.
Hose: Vor meiner Studienzeit kannte ich, wie gesagt, keine jüdischen Menschen. Heute habe ich Freundinnen und Freunde in der jüdischen Gemeinde. Sie sind Teil meines Lebens.
Slenczka: Jüdische Gebäude, Gemeindezentren und Synagogen, müssen von der Polizei bewacht werden. Ich finde es sehr beschämend, dass es diesbezüglich keine Normalität gibt.

Frau Kon, Sie kommen aus Moskau. Wie war dort das Leben für jüdische Menschen?
Kon: Bei meiner Einschulung war ich die einzige Jüdin in der Klasse. Das wurde im Klassenbuch erwähnt, in dem die Nationalitäten aller Schüler angegeben waren. Mit 16 Jahren bekam ich, wie alle Sowjetbürger, einen Pass. In dem stand auch "Jüdisch" als Nationalität. Als ich an der Musikfachschule am Moskauer Konservatorium studierte, gab es viele jüdische Studenten. Es war damals aber schwierig, sich aktiv und offen für die jüdische Religion, für seine jüdische Kultur zu engagieren. Ein Beispiel: Am Feiertag von Simchat Tora, übersetzt "Freude an der Tora", versammelten sich traditionell jüdische Jugendliche neben der Moskauer Synagoge, tanzten, sangen, unterhielten sich. Dort war normalerweise wenig Verkehr. Plötzlich fuhren viele Autos vorbei, angeführt von der Verkehrspolizei, um unser Fest zu stören.
Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und UnterfrankenDie Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Würzburg und Unterfranken (GcjZ) wurde 1962 gegründet. Oberstes Ziel des Vereins ist eine von Vertrauen getragene Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde in Würzburg und Unterfranken. Den Vorsitz haben ein jüdisches, ein evangelischen und katholisches Vorstandsmitglied. Zu den ersten drei Vorsitzenden gehörte David Schuster, Vater von Josef Schuster, des heutigen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Regina Kon wurde 1951 in Moskau geboren. 1999 reiste sie nach Deutschland und baute sich in Würzburg ein neues Leben auf. Die Musiklehrerin engagiert sich in der Jüdischen Kultusgemeinde Würzburg und ist seit vielen Jahren jüdische Vorsitzende der GcjZ.Burkhard Hose, geboren 1967 in Hammelburg und 1994 zum Priester geweiht, leitet seit 2008 die Katholische Hochschulgemeinde in Würzburg. Bekannt wurde er durch seinen Einsatz für Geflüchtete und gegen Rechts sowie als Buchautor. Im Januar 2022 schloss sich Hose der Initiative #OutInChurch – für eine Kirche ohne Angst an.Wenrich Slenczka wurde 1964 in Heidelberg geboren. Der evangelische Pfarrer ist seit 2020 Dekan im Dekanatsbezirk Würzburg. Nach seinem Studium hielt er sich ab 1991 und ab 1995 längere Zeit in St. Petersburg auf, zuerst an der Geistlichen Akademie der Russischen Orthodoxen Kirche, später als Referent an der Bischofskanzlei.Quelle: cj